No man is an island: Neue Bücher im Herbst

John Kippin & Nicola Neate, Rosie and Raphael, aus: In this Day and Age, 2022, Courtesy the artists
Bücher
17. November 2022
Text: Annette Hoffmann
Herbert X. Maier, Gravitation, 2006 /2018-2020, Courtesy the artist

John Kippin & Nicole Neate: In this Day and Age. The Outer Hebrides, Kerber Verlag, Bielefeld 2022, 128 S., 48 Euro | ca. 68.90 Franken

Die Gewissheit, dass niemand eine Insel sei, muss den Briten, seit John Donne im 17. Jahrhundert diesen Satz geprägt hat, irgendwie abhanden­gekommen sein. Der Brexit hat im Land seine Spuren hinterlassen. Was aber, wenn eine Insel kein Solitär, sondern selbst eine komplexe Gesellschaft wäre? Das Fotografenpaar John Kippin und Nicola Neate haben die Probe aufs Exempel gemacht. Vier Jahre ließen sie sich auf North Uist (Schottland) nieder, fotografierten und nahmen am Sozialleben der 2.000 Einwohner teil. Sie wollten es anders machen als Paul Strand, der sich Mitte der 1950er Jahre auf South Uist aufhielt und die Landschaft und ihre Menschen fotografierte. Kippin und Neate setzen auf Partizipation und hörten sich die Geschichten derer an, die hier seit Generationen leben oder sich in die Insel verliebt haben. Die Fotografien und Texte spiegeln eine Insel mitten in der Gegenwart wider.

Venedigsche Sterne. Kunst und Stickerei. Hg. v. Stephan Kunz, Susann Wintsch, Scheidegger & Spiess, Zürich 2022, 256 S., 48 Euro | ca. 49 Franken

Sophie Taeuber-Arp soll sich hier Inspirationen geholt haben. 7.000 Textilien hat das Rätische Museum gesammelt. Das Bündner Kunstmuseum hat das 150 jährige Bestehen des lokalgeschichtlichen Museums zum Anlass genommen, Stickbilder der Sammlung zu zeigen und sie zeitgenössischer Kunst gegenüberzustellen (bis 20.11.). Obgleich Handarbeiten im Ruf stehen, volkstümlich und ein bisschen rustikal zu sein, sind diese Stickereien wahre Weltbürger. Manche der Muster kamen durch Handel und die Kreuzzüge in die Täler. Venedig spielte eine wichtige Rolle im Austausch mit dem östlichen Mittelmeerraum. Die ersten Musterbücher, meist für Kreuzstich, wurden im 16. Jahrhundert gedruckt, doch in den Familien kursierten gestickte Mustertücher, die für Aussteuer oder repräsentative Textilien als Vorlage dienten. Granatäpfel, Nelken, Löwen, Herz- und Blattmotive haben ihre Bedeutung, die im Laufe der Jahrhunderte verloren ging. Die Gründe, warum Künstlerinnen und Künstler im 20. Jahrhundert oder heute zum Sticken kommen, sind vielfältig. Manche wie Isa Melsheimer haben sich vom Stoff gelöst, andere wie Alice Bailly entdeckten die Nähe zu kubistischen Kompositionen. Sie schreiben jedenfalls eine reiche Tradition weiter.

Timothy Eastman: All the past we leave behind. America’s new Nomads, Kehrer Verlag, Heidelberg 2022, 96 S., 39,90 Euro | ca. 55.90 Franken

Wer vor zwei Jahren Choé Zhaos Film „Nomadland“ gesehen hat, wird einiges aus der Welt dieser neuen amerikanischen Nomaden wiedererkennen. Denn sowohl der semi-fiktionale Film als auch Timothy Eastmans Buchprojekt beruhen auf dem Sachbuch von Jessica Bruder „Nomaden der Arbeit. Überleben in den USA im 21. Jahrhundert“. Die Menschen, die Eastman porträtiert hat und deren Geschichten er in ihren eigenen Worten wiedergibt, würden hier widersprechen. Man sieht den ordentlich aufgeräumten und organisierten mobilen Häusern die Disziplin an, was es heißt, nicht aufzugeben.

Vielleicht entspricht es der amerikanischen Mentalität, dass das Leben in Vans, Wohnwagen und Trailerparks als Inbegriff der Autarkie beschrieben wird und immer wieder die große Solidarität und die Freundschaften, die untereinander geschlossen werden, beschworen werden. Die Menschen stammen aus der Mittelschicht, sie verloren durch Hurrikane, die Wirtschaftskrise und Krankheiten ihre vorherige Existenz. Nach Ablösung der Schulden reichte es noch für ein mobile home und sie reihten sich in den Treck der­jenigen ein, die den Sommer in warmen Gegenden verbringen und für Jobs bei Amazon & Co den Standort wechseln. Es ist nicht zu vermeiden, an Dorothea Langes Porträts aus der Großen Depression zu denken. Doch wird dies den Menschen, die hier einmal im Mittelpunkt stehen, nicht gerecht. Aber auch diese neuen Nomaden sind ein Zeitbild der USA.

Herbert X. Maier: Complementary, Snoeck, Köln 2022, 224 S., 58 Euro | ca. 81.90 Franken

Der Freiburger Maler Herbert X. Maier ist ein viel Gereister. Und er ist ein Künstler mit universellen Interessen. Maiers Bildprogramm hat etwas Enzyklopädisches. Es beginnt damit, dass er seine abstrakten Bilder, die aus mehreren Schichten aufgebaut sind, als Speicher versteht. Und es setzt sich darin fort, dass er ein Archiv des menschlichen Antlitzes gemalt hat, das er nun um die Kulturgeschichte erweitert. Herbert X. Maiers Bildkosmos gleicht einer Bibliothek der analogen Erfahrungen. Der Katalog, der anlässlich seiner Ausstellung im Freiburger Morat Institut für Kunst und Kunstwissenschaft erscheint, führt die Werkgruppen zusammen und beleuchtet sie durch zwei Essays.