Musterung – Pop und Politik in der zeitgenössischen Textilkunst: Kassiber im Gewebe

Musterung. Pop und Politik in der zeitgenössischen Textilkunst, Ausstellungsansichten mit Arbeiten von Parastou Forouhar und Tim Berresheim, Courtesy the artists & COSAR, Düsseldorf, carlier | gebauer, Berlin, Madrid, SNA – Studios New Amerika, © VG Bild-Kunst, 2022, Foto: Wynrich Zlomke
Review > Ravensburg > Kunstmuseum Ravensburg
14. Oktober 2022
Text: Annette Hoffmann

Musterung – Pop und Politik in der zeitgenössischen Textilkunst.
Kunstmuseum Ravensburg, Burgstr. 9, Ravensburg.
Dienstag 14.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 30. Oktober 2022.
www.kunstmuseum-ravensburg.de

Musterung. Pop und Politik in der zeitgenössischen Textilkunst, Ausstellungsansichten mit Arbeiten von Erika Hock und Kyungah Ham, Courtesy the artists & COSAR, Düsseldorf, carlier | gebauer, Berlin, Madrid, SNA – Studios New Amerika, © VG Bild-Kunst, 2022, Foto: Wynrich Zlomke
Laure Prouvost, Swallow me, From Flanders to Italy a tapestry, 2019, Detail, Courtesy the artist & carlier | gebauer, Berlin, Madrid, © VG Bild-Kunst, 2022, Foto: Trevor Good

Kunst ist mehr als das Material, aus dem sie gemacht ist. Was wäre sie ohne Ideen, Referenzen und das Feld, das sie sichtbar werden lässt? Das ist so selbstverständlich, dass es kaum der Rede wert scheint. Doch was geschieht, wenn Materialaufzählungen außer Seidenfaden auf Leinwand und Holzrahmen auch Vermittler, Schmuggler, Geheimcode, Bestechungsgeld, Zensur, Angst, Spannung und Ideologie kennen. Dann handelt es sich um eine der nordkoreanischen Handstickereien, die von Kyungah Ham (*1966) in Auftrag gegeben wurde. Und dann sieht man vor sich, wie verschlüsselte Daten aus Seoul über die innerkoreanische Grenze geschmuggelt und diese von Kunststickern in Muster von Bildern umgesetzt werden. Steht man im Kunstmuseum Ravensburg in der Ausstellung „Musterung. Pop und Politik in der zeitgenössischen Textilkunst“ vor den unzähligen Stichen der Arbeit, kann man dennoch für einen Moment die politische Situation der beiden Koreas und ihrer Menschen vergessen und die Schönheit und Handfertigkeit bewundern. Ham selbst ist mit dieser prekären Lage aufgewachsen, in ihrer Jugend wurden auf beiden Seiten Flugblätter abgeworfen, um für die eigene Sache zu überzeugen. Auch die großformatige Stickerei eines Kronleuchters in Schieflage spielt auf die Trennung der beiden koreanischen Staaten an. Es ist derjenige, der über dem Konferenztisch von Jalta hing, wo die Teilung Koreas 1945 beschlossen wurde.

Textilkunst wurde lange über das Material hinaus kein besonderer Wert, vor allem keine politische Aussage zugestanden. Die Nähe zum Kunsthandwerk und zu weiblicher Erwerbsarbeit wirkte wie eine Kontaminierung – trotz des Œuvres einer Sophie Taeuber-Arp (1889-1943). Die thematische Schau „Musterung“ spiegelt das wider: 14 Künstlerinnen und vier Künstler ist immer noch ein ungewöhnliches Geschlechterverhältnis. Für die Ausstellung haben sich zwei Kunstinstitutionen aus Städten mit einer bedeutenden Textiltradition zusammengetan. Wegen des Lockdowns fand die Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz jedoch nicht ihr Publikum, so dass die Schau im Kunstmuseum Ravensburg nun das erste Mal öffentlich zugänglich ist.

Ihr Titel spielt einerseits auf das Muster an – auf einen sich wiederholenden Rapport, der Textilien auch als industrielle Produkte ausweist oder auf das Verspielte und Dekorative von Stoffen. Andererseits steckt in ihm auch die Qualitätskontrolle, der die Ware unterzogen wird, aber eben auch die Rezeptionshaltung einer genauen Betrachtung. Denn dann entgehen einem nicht die feinen Übergänge in den Webstücken von Helen Mirra (*1970) und ihre Faltungen. Mirra hat den gesamten Produktionsprozess von der Wolle bzw. dem Leinen bis hin zum Stoff kontrolliert, zugleich beziehen sich Arbeiten wie „Folded waulked Triangle“ in Format und der Art der Präsentation auf den Minimalismus, auch wenn ihr Material ein Gegensatz zu den meist industriell gefertigten Modulen dieser Kunstrichtung ist. Wer die Ausstellung betritt, wird jedoch zuerst von den Arbeiten Magdalena Kitas (*1983) angezogen. Die polnische Künstlerin hat ein Video produziert, das wie ein Werbeclip attraktive Menschen am Strand eingehüllt in schöne Handtücher feiert. Erst auf den zweiten Blick erkennt man die erotischen Motive, die sich nicht so recht mit der Eltern-Kind-Idylle vertragen. Auch die Wandteppiche von Kita zeigen Sexszenen umrahmt von Rosenbordüren. Künstlerinnen wie Rosemarie Trockel (*1952) mit ihren Strickbildern und Alexandra Bircken (*1967) mit ihren Motorradschutzanzügen, die wie erlegte Tiere oder Trophäen wirken, haben Textilkunst aus der Handarbeitsecke befördert. Wieder andere wie Shannon Bool (*1972) verbinden die Jacquardtechnik mit Fotos modernistischer Architektur. Tim Berresheim (*1975) fügt dem Stofflichen mit QR-Codes eine weitere Schicht hinzu, so dass die große Wandarbeit zu einer Bühne für Zeit und Raum wird. Schon immer waren Stoffe und ihre Produktion Motor für technische Entwicklungen: von der Dampfmaschine bis hin zum Lochkartensystem von Webstühlen, das die Grundlage von Computern wurde.