Silvia Bächli: Lange Linien lang.
Weserburg – Museum für moderne Kunst, Teehof 20, Bremen.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donerstag 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 9. Oktober 2022.
[—artline Nord] Im Zirkus der Kunstkonjunkturen und kunsttheoretischen Debatten bietet eine Gattung immer wieder das Gefühl von Erdung und Klärung: die Zeichnung. Auf der Seite der Zeichner:innen bedarf es dazu der Souveränität und Beharrlichkeit. Schließlich gehören Stift und Papier nicht zum aktuell favorisierten Medienkanon. Doch gerade, wenn es stiller ausfällt als die aktuell übliche Bildschwemme, besitzt das Zeichnen eine Entschiedenheit, die auffällt. Diese offenbart sich vor allem, wenn die Linie als Kernelement des Zeichnens exponiert auftritt. Dann werden nicht nur Gestalten umspielt, dann verweist die Gestaltgebung auf sich selbst, dann werden die Bewegungen und Rhythmen, die Energie und Körperlichkeit der Linien selbst sichtbar.
Die Schweizer Künstlerin Silvia Bächli formuliert ihre Bildwelten seit vielen Jahren in der Zeichnung. Schaut man auf ihre Arbeiten, die derzeit in der Bremer Weserburg zu sehen sind, spürt und sieht man in den reduzierten Blättern die Erfahrung und den Fundus, aus dem sie geschöpft sind. Die Sicherheit der Setzungen, die jede Glätte und Gewissheit abweisen. Die Körperlichkeit der breiten Farbbahnen, die den Strich zur gestaffelten Fläche auswachsen lassen. Das fast zögerliche, zarte Umspielen von Konturen und Figuren. Bächlis Zeichnungen besitzen eine Nähe zu kammermusikalischen Strukturen und Klängen. In einer großformatigen Arbeit wirken parallele, horizontale Balken so, als seien Notenlinien selbst bereits Klangbahnen und Akkordschichtungen. In ihrem poetischen Duktus gleichen Bächlis Werke auch aphoristischen, lyrischen Betrachtungen, die das Sehen selbst wie das Gesehene aufgreifen, vor allem aber den Dingen und Darstellungen selbst eine Sprache geben. Im kargen Strich vermittelt sich die Zurücknahme von Ausdruck. Hier gilt es, dem Übersehenen und Übergesehenen Präsenz zu verschaffen, der puren Gegenwart von Farbe und Strich in zugleich spielerisch und strukturbewusst durchgeführten Variationen nahe zu kommen.
Auch wenn dies den ungegenständlichen Arbeiten kaum abzulesen ist: Die Zeichnungen Silvia Bächlis fußen in gesehenen Situationen, Ereignissen, Orten, Personen. Diese hält sie nicht vor Ort fest, sondern notiert und transformiert sie dabei aus der Erinnerung. Damit sind Verschiebungen und
Lücken schon eingeschlossen. Bächli zeichnet das Echo des Betrachteten nach. Nicht spontan, aber umweglos, nicht schnell, sondern eingehend. Körper hinterlassen Spuren, diese Spuren sind Energieträger, die Akteure beschreibend und den Raum füllend. Bächlis Blätter kommen Choreografien nahe, sie zeichnen auf und gehen über das Protokollieren hinaus. Hier zählen Proportionen und Gewichtung, Harmonien und Kontraste, Dynamik und Kraft. So ist deren Betrachtung kein optischer Abgleich, sondern eine Körpererfahrung.
Silvia Bächlis Lieblingslandschaften befinden sich im Norden. Sie hat zu Island gearbeitet, ihre dortigen Impressionen aufgezeichnet. Die nördlichen Regionen dürften ihr deshalb sympathisch sein, weil sie Abstraktion bereits in sich tragen. Zugleich sind sie real und vital. Abstraktion ist nicht Askese. Bächlis Zeichnungen sind karg und sinnlich zugleich. Ihre Leerräume sind Portale für die Betrachtenden, Podien für Zwischenphänomene. Sie exponieren das Verstellte und Verborgene. Erst durch Stille zieht Magie ein. Erst durch Pausen kann das Ausformulierte Beachtung gewinnen. Die Zeichnerin schätzt die Lyrik Inger Christensens, die sich mit purer Sprache an Begriffe gemacht und die Dinge mit ihren Geschichten und Gestalten poetisch freigelegt hat. Ihr Bezirk waren der Alltag und dessen Auftritte in der Sprache. Nur mit unbestechlichen, unprätentiösen Wörtern und Linien lässt sich den Konventionen entkommen, welche die Wirklichkeit fremd machen. Silvia Bächli überschreibt deren äußere Erscheinungsformen und lässt sie in Formen und Farben, verdichtet, aber offen, wie ein ferner Widerhall neu entstehen.