The Living and the Dead Ensemble, Lanjelis: Wenn der Tag die Nacht gebiert

The Living and the Dead Ensemble, Ouvertures, 2019, Filmstill, Courtesy the artists
Review > Karlsruhe > Badischer Kunstverein
31. August 2022
Text: Theresa Roessler

The Living and the Dead Ensemble: Lanjelis.
Badischer Kunstverein, Waldstr. 3, Karlsruhe.
Dienstag bis Freitag 11.00. bis 19.00 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 11. September 2022.
www.badischer-kunstverein.de

The Living and the Dead Ensemble, Ouvertures, 2019, Filmstill, Courtesy the artists
The Living and the Dead Ensemble, Ouvertures, 2019, Filmstill, Courtesy the artists

„Der Mond ist heute Abend groß. Im Mondschein ist unsere ganze Armee aufgestiegen“, liest eines der Mitglieder des The Living and the Dead Ensemble aus dem Theaterstück „Monsieur Toussaint“ von Édouard Glissant vor. Und erläutert, dass es bei dieser Szene um François Mackandal ginge, einen der Anführer der haitianischen Maroons in Saint-Domingue, der als Bizango, als Giftmischer tätig war. Aufgrund der ihm zugeschriebenen Kräfte tritt der Mond hier die Rolle eines Komplizen zum Gelingen politischen Aufbegehrens an und gilt zudem als weibliches Pendant zum Sonnengott. Im Hinblick auf Louis XIV. und dessen Einführung des „Code Noir“, der 1685 die juristische Grundlage für die Verbrechen der französischen Kolonialmacht legte und versklavten Menschen jegliches Existenzrecht absprach, gewinnt dies noch weitere symbolische Bedeutung. Zwar steht die Nacht in der haitianischen Kultur auch für die Vergangenheit des Kolonialismus und Extraktivismus, fungiert aber gleichzeitig als Gegenentwurf zu einer Rhetorik der Aufklärung, die den Tag und das Licht mit Vernunft und wissenschaftlicher Erkenntnis verknüpfte. Für The Living and the Dead Ensemble avancierte so die Nacht nicht nur im Rückblick auf die Haitianische Revolution von 1804 zum zentralen Sujet, sondern auch im Kontext aktueller Geschehnisse und der Organisation politischer Proteste. Es ist die Nacht, die im Schutz ihrer Dunkelheit Neuanfänge birgt, neue Geschichten zu gebären in der Lage ist und neue Perspektiven auf Gemeinschaftlichkeit und Solidarität eröffnet.

Ästhetische Strategien des Dekolonialen entwickeln sich bei The Living and the Dead Ensemble, dessen Mitglieder aus Haiti, Frankreich und Großbritannien kommen, innerhalb zahlreicher Medien, wie Filme, Zeichnungen, Lyrik, Workshops, Theaterstücken und Musik. Der Badische Kunstverein zeigt mit „Lanjelis“ erstmalig eine umfassende Ausstellung des Ensembles. Gegenerzählungen und -entwürfe zu von Weißen dominierten Konzepten, wie Geschichte, Identität und Kultur lassen sich insbesondere in den Filmen „The Wake“ und „Ouvertures“ aufspüren. Letzterer, der das eingangs erwähnte Theaterstück zum Ausgangspunkt nahm, setzt sich aus Lesungen, Rezitativen und Diskussionen zusammen und vermischt verschiedene Zeiten, Räume und Rollen miteinander. Auch Revolutions-Anführer Touissant Louverture, der 1803 nach Frankreich deportiert wurde, kehrt im Film ins Port-au-Prince des Jahres 2017 zurück. Damit bezieht sich das Ensemble auf Glissant, der Louverture als „eine prophetische Vision der Vergangenheit“ beschreibt. „Ouvertures“ ist demnach keinesfalls ein Historienfilm, stattdessen ein Film über die Kraft der Erneuerung, wie sie auch in „The Wake“ im Kontext der Reparatur postkolonialer Missstände zum Tragen kommt. Die Kreidezeichnungen auf blau gestrichenen Wänden vor und zwischen den Filmarbeiten können als kontextualisierende Kommentare und teils metaphorische Vorwegnahmen gelesen werden. Ein Zeitstrahl setzt bei der Ankunft Chris­toph Kolumbus‘ 1492 an und endet mit einer 2022 veröffentlichten Studie der New York Times zur Doppelverschuldung Haitis. Zwar gilt Haiti als erste befreite Schwarze Republik und de facto nicht mehr als französische Kolonie, jedoch musste Haiti bis 1947 illegitime Schulden an Frankreich zurückzahlen, was den Inselstaat zu einem der ersten postkolonialen Schuldenstaaten werden ließ.

Die Zeichnungen im Kabinett knüpfen bereits an Schwarze Historiografie an: Neben Gedichten der Ensemble-Mitglieder, die als Handynachricht innerhalb der Gruppe ausgetauscht und nun in Vitrinen als Archivalien zu sehen sind, ist ein Verweis auf das Buch „The Black Atlantic“ von Paul Gilroy zu entdecken. Der Begriff steht einerseits für die Verschleppungs- und Versklavungserfahrungen Schwarzer Menschen sowie für daraus resultierende Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse sowie Rassismen; andererseits für Widerstand leis­tende Schwarze Akteurinnen und Akteure, die sich der Wiederaneignung von gewaltvoll Entwendetem annahmen.