Wie einer untergegangenen Welt begegnen: Nature and State

Grada Kiloma, O Barco/The Boat, Performance, 2022, © Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Foto: Günzel. Rademacher
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17. August 2022
Text: Theresa Roessler

Nature and State.
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Lichtentaler Allee 8a, Baden-Baden.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 16. Oktober 2022.
www.kunsthalle-baden-baden.de

Will Fredo, Still from the Video MILPA +X, 2022, © Will Fredo
Ayman Zdani, The Keeper (Render), 2022, © Ayman Zedani
Ersan Mondtag, Becoming Sculptures, Performance, 2022, © Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Foto: Günzel. Rademacher
Cansu Çakar, Cast of Lines, 2022, Nature and State, Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, © Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Foto: Günzel. Rademacher
Alia Farid, Chibayish, Videostill, 2022

„ein Schiff / eine Fracht / eine Ladung / eine Geschichte / ein Stück / ein Leben / ein Körper / ein Mensch / ein Sein / eine Seele / eine Erinnerung / ein Vergessen / eine Wunde / ein Tod / eine Trauer / eine Revolution / eine Gleichheit / eine Zärtlichkeit / die Menschheit / eine Zärtlichkeit / eine Gleichheit …“, und die Aufzählung kehrt erneut zum Anfang zurück. Das Schiff ist zugleich titelgebend für die knapp einstündige Performance „O Barco/The Boat“ von Grada Kilomba, die sich mit Ideologien der Unterdrückung sowie Deportation und Sklaverei als kollektivem Trauma auseinandersetzt. Einem zeremoniellen Ablauf folgend, wechseln sich das eingangs zitierte Gedicht, das in einer Art alternierendem Sprechgesang vom Lissabonner Gospel Collective vorgetragen wird, mit Klagegesängen, tänzerischen Elementen, Perkussion und geblasenen Muschelhörnern ab.

Kilombas Performance eröffnete Anfang Juli im Park der Lichtentaler Allee nahe der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden das umfangreiche Ausstellungsprojekt „Nature and State“, das sich durch Offenheit, Partizipation und Prozessualität zu profilieren versucht. Nach der letztjährigen Unternehmung „State and Nature“ will sich auch dieses Mal jener Koloss, der sich hinter solch einem plakativen Titel verbirgt, nicht so recht bändigen lassen. Es geht um dekoloniale Ökologien, politisches Aufbegehren, außer-europäische Wissenspraktiken, die Potentialität, geltende Formen von Staatlichkeit und Gesellschaftlichkeit zu verändern und vieles, vieles mehr. Zwar offerieren mehr als 20 künstlerische Positionen Einblicke in verschiedene sozialgeografische und politisch-ökologische Kontexte, doch fernab des Performance- und Begleitprogramms lässt die eigentliche Ausstellung Stringenz vermissen. Die Arbeiten wirken mitunter isoliert und unverbunden, wenngleich mit dem Wasser ein „Leitmotiv“, wie es der begleitende Text vorschlägt, nachzuvollziehen sein soll. Die Ressource Wasser und damit verbundene Zuschreibungen, wie Heimat, Lebensquelle, Geschichte, Erbe und die durch Wasserknappheit bedingten Umweltauswirkungen wie Desertifikation, Erosion und Extinktion werden zur Disposition gestellt.

So untersucht etwa Michael Akstaller (*1992) in seiner Soundinstallation „barriers of waves“, wie sich Eingriffe des Menschen auf das Ökosystem Fluss und das Navigationsvermögen von Fischen auswirken; dass Wasser als ein zentrales Politikum gehandhabt wird, davon zeugen die Arbeiten von Will Fredo, der sich mit der folgenschweren Verschmutzung des Izabal-Sees in Guatemala durch eine Schweizer Nickelmine beschäftigt und Alia Farid (*1985), die zur Kommerzialisierung und Instrumentalisierung von Wasser und daraus resultierenden geopolitischen Konflikten im Südirak und Kuwait forscht. Cansu Çakar (*1988) bedient sich wiederum der Wassermetaphorik des Geldes. Mit Wasserfarbe und Tusche angefertigte Zeichnungen von Wasserlandschaften sind auf vier an der Wand befestigten Rollen Thermopapier zu entdecken. Während das Thermopapier, das für die Erstellung von Rechnungen genutzt wird, auf eine Konsum- und im Überfluss lebende Gesellschaft referiert, bemüht Çakar in „Cast of Lines“ die Metaphern des Fließens und Strömens. Sie konterkariert die traditionelle Darstellungsform der Miniaturmalerei, die soziale und politische Ereignisse eher illustrierte und lässt ihre Malereien stattdessen als eigenständige, positive Stimmen und Chronistinnen ihrer Zeit auftreten. Denn das Wasser, verstanden als Quelle des Lebens, hält Momente des Gebärens und Geboren-Werdens bereit.

Auf Neu-, respektive andere Anfänge verweisen auch weitere Arbeiten in „Nature und State“, indem sie sich entschieden gegen einen europäischen Essentialismus wenden, der sich hartnäckig an Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität und Rasse festklammert. Stattdessen imaginieren und ergründen die Künstler*innen Lebens- und Gemeinschaftsformen, die Pluralität, Reparatur und Veränderung zulassen und gegen ein Weißes, paternalistisches Selbstverständnis aufbegehren.