Documenta fifteen: Blind für den Kontext

Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), Espacio Aglutinador, 2022, Installationsansicht, Documenta Halle, Kassel, Foto: Nicolas Wefers
Thema
8. Juli 2022
Text: Dietrich Roeschmann

Documenta fifteen.
Bis 25. September 2022.
www.documenta.de

Taring Padi, Sekarang Mereka, Besok Kita, 2021, Installationsansicht, Kassel, 12. Juni 2022, Foto: Frank Sperling

100 Tage sind eine lange Zeit. Doch gemessen an dem, was die Documenta bereits in den wenigen Tagen seit ihrer Eröffnung am 18. Juni 2022 an schlechten und empörenden Nachrichten produziert, sind 100 Tage eine halbe Ewigkeit. Stand heute bleibt abzuwarten, ob das Gerüst, an welchem das Bild „People’s Justice“ des indonesischen Künstler*innenkollektivs Taring Padi hing, das offen antisemitische Hetze ins Herz der gerne als „Weltkunstschau“ apostrophierten Großveranstaltung in Kassel trug, tatsächlich bis zur Finissage im September als Ruine auf dem Friedrichsplatz stehen bleiben wird. Beim Presserundgang vor der Eröffnung war das 20 Jahre alte Bild noch nicht zu sehen, angeblich, weil es noch restauriert werden musste. Nach der Enthüllung blickten darauf dann grotesk an antisemitische Karikaturen der Nazizeit angelehnte Figuren in die Stadt. Die entsetzten Reaktionen von Publikum, Presse und Politik konterte Documenta-Geschäftsführerin Sabine Schormann mit dem bizarren Vorschlag, Taring Padis Darstellungen von Juden mit Schweinsgesichtern und Raffzähnen „kontextualisieren“ zu wollen, ganz im Sinne des indonesischen Kurator*innenkollektivs ruangrupa, das die diesjährge Documenta verantwortet und das in bemerkenswerter Kontextvergessenheit seines eigenen Tuns im Land, von dem der Holocaust ausging, ernsthaft erklärte, dass die „visuellen Vokabeln“ des Hetzbildes „kulturspezifisch auf unsere eigenen Erfahrungen bezogen“ seien. Diese Argumentation dominierte schon im Vorfeld die Kommunikation von ruangrupa und Sabine Schormann, die nach ersten Hinweisen auf eine mögliche Documenta-Beteiligung von Kunstschaffenden aus dem Umfeld der israelkritischen und vom Deutschen Bundestag als antisemitisch eingestuften Boykottbewegung BDS unisono darüber klagten, dass Kritiker*innen ihrer Ausstellungspolitik „mit Dekontextualisierungen und Verkürzungen“ die „Diskursräume verengen“. Eine daraufhin angekündigte Gesprächsreihe über Antisemitismus und Kunstfreiheit sagten ruanrupa dann aber doch kurzfristig ab – man wolle erst die Ausstellung beginnen und „für sich sprechen lassen, um die Diskussion dann auf dieser Basis sachgerecht fortzusetzen“. Dafür scheint es nun zu spät, denn mit dem Antisemitismusskandal und dem relativierenden bis abwehrenden Umgang damit sind ruangrupa an ihrem eigenen inklusiven Anspruch gescheitert, nicht zuletzt, weil sie den lokalen und historischen Kontext der Documenta selbst vollständig ausblendeten. Dabei hätten sie viel von einigen Gästen ihrer Schau lernen können, etwa von der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera, die im Mai 2015 in Havanna eine kollektive Lesung aus Hannah Arendts „Elemente und Ursprünge totalitäter Herrschaft“ von 1951 initiiert hatte. Untertitel der Studie: „Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus“. Das daraus hervorgegangene Instituto de Artivismo Hannah Arendt wird die 100 Tage in Kassel nutzen, um in zehn Ausstellungen an das zerstörerische Potenzial der von Arendt beschriebenen „Elemente“ zu erinnern.