Lorna Simpson, Haze: Den Schleier wegziehen

Lorna Simpson, Timeline, 2019, Ausstellungsansichten Kunstmuseum Thun, Courtesy the artist, Foto: David Aebi
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5. Juli 2022
Text: Annette Hoffmann

Lorna Simpson: Haze.
Kunstmuseum Thun, Hofstettenstr. 14, Thun.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 14. August 2022.
www.kunstmuseumthun.ch

Lorna Simpson, Triple Canopy Head, 2017, und Haze, 2018, Ausstellungsansichten Kunstmuseum Thun, Courtesy the artist, Foto: David Aebi
Lorna Simpson, 12 Stacks, 2018, und Haze, 2019, Ausstellungsansichten Kunstmuseum Thun, Courtesy the artist, Foto: David Aebi

Die Macher der 1945 und 1951 gegründeten Magazine „Ebony“ und „Jet“ wussten, was sie damals für die afroamerikanische Community taten. Sie gaben der schwarzen Mittelschicht ein Selbstbewusstsein, das ihrer Kaufkraft entsprach. Der Zweite Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen und die Bürgerrechtsbewegung hatte Auftrieb bekommen. Die beiden Magazine bildeten Menschen ab, die zur Mitte der Gesellschaft gehörten und Grund hatten, optimistisch in die Zukunft zu schauen. „Jet“ stand gar für „Black and Speed“. Lorna Simpson (*1960), die als erste schwarze Frau 1990 auf der Biennale von Venedig ausstellte, ist mit den Magazinen aufgewachsen. Ihre Mutter und ihre Großmutter hatten sie im Haus. 2019 hat Simpson „Ebony“-Ausgaben über drei Meter gestapelt, so dass eine vertikale Zeitachse entstanden ist. In ihrer Ausstellung im Kunstmuseum Thun „Haze“ nimmt „Timeline“ einen ganzen Raum ein. Und auch die ein Jahr früher entstandenen „12 stacks“ sind in ihrer Einzelschau zu sehen. Manchmal sind die Magazine zwischen den Beinen eines umgedrehten Hockers gelagert, meist jedoch liegt wie ein Briefbeschwerer ein gläserner Würfel auf ihnen, der Kühle ausstrahlt und das Cover sanft verzerrt. Die Beauty-Tipps von „Ebony“ und „Jet“ hatten emanzipatorisches Potential und verbanden Generationen. In einem Interview anlässlich ihrer Ausstellung im Münchner Haus der Kunst 2013/14 erzählt sie, was für ein Aufsehen ihre Mutter erregte, als sie sich die langen, geglätteten Haare abschnitt und einen Afro trug.

Haare sind ein Thema in Lorna Simpsons Ausstellung im Kunstmuseum Thun. Für ihre Collagen griff sie auf die beiden Magazine zurück. Eine mittelalterliche Rüstung hat sie um den Kopf einer schwarzen Frau mit Föhnfrisur ergänzt. „Stretch 8-10 inches long“ steht daneben; die Art, das Haar zu tragen, hat etwas Identitätsstiftendes. Lorna Simpson setzt schwarze Frauen auf Eisthrone und auf Reiterstandbilder. Wo weiße Männer posierten, richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf schwarze Frauen. Simpson gibt ihnen etwas von der Würde und der Macht, die die Gesellschaft ihnen vorenthielt. Die Frisuren der Serie „Triple Canopy Head“ wirken wie ein Naturereignis. Mit viel Schwung hat sie wucherndes Haar in Blau- und Grüntönen wie Hauben auf die Köpfe gemalt.

Im Kunstmuseum Thun kommt zur Geste des Schichtens und Überlagerns, das neue Zusammenhänge schafft, der Sound hinzu. In fast allen Räumen des Museums hört man ein melodisches Pfeifen. Es ist der Ton von „Cloud­scapes“ aus dem Jahr 2004. Das Schwarzweiß-Video entstand in Zusammenarbeit mit dem bildenden Künstler Terry Adkins. Der Afroamerikaner ist gut gekleidet, die Hände hat er im Rücken verschränkt und strahlt eine nach innen gewandte Präsenz aus. Er beginnt zu pfeifen. „Cloudscapes“ ist als Loop angelegt, Nebelschwaden hüllen ihn mal ein, so dass Adkins nur noch als Scheme existiert, dann lösen sie sich auf. Nie verschwindet er ganz, doch nie ist er davor gefeit, unsichtbar zu werden. Ähnlich symbolträchtig ist die Melodie. Sie gehört zu jenen Spirituals, mit denen die Fisk Jubilee Singers seit ihrer Gründung 1871 bekannt geworden waren. Der Chor verkörperte nicht nur eine spezifisch schwarze Spiritualität, mit seinen Tourneen sicherte er auch das Fortbestehen der privaten Hochschule für Afroamerikaner, die auf das Jahr 1866 zurückgeht.

Ein ganz ähnlicher Nebel, nur von kühlem Blau, legt sich auf die Bilder, die zu Lorna Simpsons neuesten Arbeiten gehören. 2015 hat sie angefangen zu malen. Eine Arbeit wie „Day and Night“ erinnert an Landschaftsmalerei, doch die anderen Werke der Gruppe zeigen, dass auch sie auf dem Prinzip der Collage beruhen. Auf manchen erkennt man übermalte Frauengesichter, mitunter sind Textstreifen integriert, auch diese Siebdrucke stammen von Magazinseiten. Die Trump-Jahre habe sie, was Rassismus und Frauenfeindlichkeit angeht, als enthüllend empfunden, hat sie einmal gesagt. Die Menschen sahen einfach keine Notwendigkeit mehr, sich zu verstellen.