Orlando: Das Leben abseits von Geschlecht und Identität

Jamal Nxedlana, FAKA Portrait, Johannesburg, 2019 © Jamal Nxedlana
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14. April 2022
Text: Dietrich Roeschmann

Orlando – Nach einem Roman von Virginia Woolf, kuratiert von Tilda Swinton.

Fotomuseum Winterthur, Grüzenstr. 44-45.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 29. Mai 2022.
fotomuseum.ch

Publikation:
Aperture No. 235, Orlando, New York 2021, 144 S., 25 Euro.

Lynn Hershman Leeson, Rowlands/Bogart (Female Dominant), 1982, aus der Serie Hero Sandwich © Lynn Hershman Leeson und Bridget Donahue, New York
Collier Schorr, Untitled (Casil), 2015–2018 © Collier Schorr und 303 Gallery, New York
Mickalene Thomas, Untitled #2 (Orlando Series), 2019 © Mickalene Thomas und Yancey Richardson Gallery, New York
Zackary Drucker, Rosalyne, 2019 © Zackary Drucker und Luis De Jesus, Los Angeles

Aus den Kopfhörern pfeift ein grelles Feedback, unterfüttert von verzerrten Gitarrenakkorden. Dazu tastet eine Kamera den nackten Oberkörper der Person ab, die gerade die Wolken dieses Noise-Gewitters in Slow Motion zusammenschiebt. Blondierte Haare fallen über schwarze Augenbrauen, Leberflecke schwimmen unscharf ins Bild, ein kleines Schultertattoo, der lackierte Gitarrenkorpus reibt am Bund der Boxershorts, unter den Brustwarzen zeichnen sich zwei lange Narben ab. Was wie das verwackelte Video einer typischen Indierockband wirkt, ist Teil eines Langzeitporträts, für das die New Yorker Künstlerin und Modefotografin Collier Schorr das junge Model Casil McArthur drei Jahre lang auf seinem Weg vom knabenhaften Girl zum mädchenhaften Boy begleitete – eine Transition vom Spiel mit der Androgynität bis zur Hormonersatztherapie und der Entfernung der Brüste.

Im Fotomuseum Winterthur eröffnet Schorrs berührende Arbeit eine Ausstellung über die Aktualität von Virigina Woolfs „Orlando“. 1928 erschienen, erzählt der Roman die Geschichte eines unsterblichen jungen Adligen zur Zeit Queens Elizabeth I., der im Lauf der Jahrhunderte versucht, den gesellschaftlichen Erwartungen an Männlichkeit zu entsprechen, daran zunehmend verzweifelt und schließlich als Frau in einer von patriarchalen Machtstrukturen definierten Gegenwart erwacht. Als die Londoner Regisseurin Sally Potter den Roman 1992 für das Kino neu erzählte, spielte Tilda Swinton, damals 32, die Rolle des Orlando mit flirrender Eleganz. Drei Jahrzehnte später widmet die schottische Schauspielerin Woolfs Figur nun als Gastredakteurin des amerikanischen Magazins „Aperture“ eine eigene Ausgabe und als Kuratorin die Winterthurer Ausstellung mit Arbeiten von zehn Kunstschaffenden.

Virigina Woolfs Roman hat Tilda Swinton nie losgelassen. „Für Woolf war der kreative Geist androgyn“, schreibt Swinton in „Aperture“. „Ich lese Orlando als eine Geschichte über das Leben eines Menschen, der danach strebt, sich vollständig von den Konventionen des Geschlechts oder sozialer Normen zu befreien“. Die Fotografinnen und Kunstschaffenden, die sie für ihre „Hommage an die Unbestimmtheit“ anfragte, arbeiten so auf denkbar unterschiedliche Weise an der Auflösung oder Überschreitung von Geschlechtergrenzen.

Zackary Drucker etwa porträtiert die Transgender-Ikone Rosalyne Blumenstein in großformatigen Fotografien, die zwischen Glamour und Melancholie viel von der Disziplin erzählen, die ein Leben jenseits der Idee von Identität bedeutet. Lynn Hershman Leeson, Pionierin des Cyberfeminismus, zeigt daneben eine Serie von mit Filmstar-Porträts überblendeten Selfies in der Rolle der fiktiven Roberta Breitmore, die sie über Jahre parallel zu ihrem eigenen Leben spielte. Wo auch das Alter Ego zur Projektionsfläche wird, ist die Freiheit hinter den Filtern der Selbstbilder grenzenlos. Der Zürcher Fotograf Walter Pfeiffer interessiert sich in seiner Polaroid-Serie so nicht zufällig für die Schönheit der tastenden Körper junger Menschen, die sich spielerisch in unterschiedlichen Rollen und Posen ausprobieren. Viviane Sassen nimmt dagegen die idealisierten Körper der Skulpturen aus den Gärten von Versailles in den Blick, um sie fotografisch zu zerlegen und für ihre Arbeit „Venus & Mercury“ zu seltsam hybriden Kreaturen neu zu arrangieren, während Jamal Nxedlana das Performance-Duo FAKA in einer runtergekommen Suburb von Johannesburg in futuristischen Queer-Looks posieren lässt und dabei im Konflikt mit empörten Nachbarn plötzlich neben Gender- auch Klassengrenzen sichtbar macht.

Die afroamerikanische Malerin und Fotografin Mickalene Thomas schlägt mit „Orlando Series“ schließlich den Bogen zurück zu Woolfs Roman und zu Potters Verfilmung. Ihr opulentes Doppelporträt von Queen Elizabeth I. und Orlando lässt sich als selbstbewusster Kommentar zum Trend des Cross- und Colorblind Castings verstehen, einer Kinopraxis, bei der männliche Rollen mit nicht-männlichen Personen besetzt oder Weiße von Nicht-Weißen gespielt werden, um so die Macht zu brechen, mit der Bilder dazu neigen, überkommene Strukturen weiterzutragen.

Dazu passt auch die stille Beiläufigkeit, mit der das Team von Tilda Swinton in Winterthur dafür sorgte, gleich im ersten Saal ein Glossar mit Begriffen von BIPoC bis Trans an die Wand zu heften, mit dem sich das Publikum bei Bedarf niederschwellig auf den aktuellen Stand in Sachen diskriminierungssensbiler Sprache bringen kann. Orlando, soviel steht nach Swintons Romanadaption für den Kunstraum fest, war schon vor knapp einem Jahrhundert bereit für Sternchen und Doppelpunkt.