Köpfe, Küsse, Kämpfe. Nicole Eisenman und die Modernen: Eine andere Malereigeschichte

Nicole Eisenman, Mining I, 2005, Courtesy the artist and Galerie Hauser & Wirth, Foto: Ingo Bustorf
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8. März 2022
Text: Annette Hoffmann

Köpfe, Küsse, Kämpfe. Nicole Eisenman und die Modernen.
Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, Aarau.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 24. April 2022.
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:Snoeck Verlag, Köln 2022, 160 S., 39,80 Euro | ca. 45.00 Franken.

Nicole Eisenman, Support Systems for Women IV, 1998, Courtesy the artist and Tilton Gallery, New York, Foto: Ingo Bustorf
Nicole Eisenman, Lee and TM, 2015, Courtesy the artist and Anton Kern Gallery, New York, Foto: Ingo Bustorf
Nicole Eisenman, Watchers, 2016, Courtesy the artist and Galerie Hauser & Wirth, Foto: Ingo Bustorf

Küsst es sich ungeniert, wenn die halbe Kunstgeschichte zuschaut? In Nicole Eisenmans Gemälde „Night Studio“ aus dem Jahr 2009 zeugen gleich zwei hohe Bücherstapel von Belesenheit. Sieht man von Bänden über Bruegel, Goya und Byzanz ab, ist viel Malerei der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts vertreten: Max Ernst, Vuillard, Hans Bellmer, Picasso und Nolde. Mit Peter Doig zeigt auch ein Zeitgenosse Präsenz. Die Stapel stehen neben einem Bett, auf dem zwei Frauen beieinander liegen, die Beine ineinander verschlungen, die eine Frau greift der anderen an die Brust. Beide tragen keine oder kaum Kleidung, dafür wie so oft auf den Bildern von Eisenman (*1965) Hüte. Ihre Annäherung bleibt im Ungefähren stehen, auch wenn der Titel der Ausstellung im Aargauer Kunsthaus „Köpfe, Küsse, Kämpfe. Nicole Eisenman und die Modernen“ vollmundig etwas anderes ankündigt.

Das Bild jedenfalls ist Argumentationshilfe für ein Ausstellungskonzept, das das Werk der US-amerikanischen Künstlerin zusammen mit der malerischen Tradition der Moderne zeigt. Und da das Aargauer Kunsthaus mit der Kunsthalle Bielefeld, der Fondation Vincent van Gogh und dem Kunstmuseum Den Haag kooperiert, kommt einiges an Modernen zusammen, auch Namen, die man auf den Buchrücken von „Night Studio“ lesen kann. Und mehr noch auch solche, die es nie ganz in den offiziellen Kanon geschafft haben, die man aber keinesfalls übersehen sollte.

Eisenman ist es gelungen, nicht in der Nische der Queerkultur stecken zu bleiben, sondern Camp für alle zu malen. Das liegt auch an ihrem Humor, der aus dem Alltag einen Witz zu machen vermag. Etwa das junge Paar, das auf einem Sofa sitzt, sie hält die Fernbedienung, er schaut sie an, der Hund vor ihnen auf dem Boden putzt sich. Was sie verpassen: nicht nur einander, sondern einen spektakulären Sternenflug, der durch das Fenster zu sehen ist. Ihre Glieder sind so weich, die Augen und Nasen so kugelrund, dass sie aus einem Comic stammen könnten. Weniger komisch sind Bilder wie „Mining I und II“, in denen eine Gruppe von Frauen in einer Berglandschaft Farbe abbaut und diese in einen Kreislauf einspeist, der eine Welt entstehen lässt. Eisenman spricht selbst von Allegorien der Malerei. In Aarau hängen diese farbmächtigen Bilder etwa neben Ernst Ludwig Kirchners „Blick ins Tobel“ von 1919/20. Die Arbeitswelt oder eine wie auch immer geartete Vergesellschaftlichung geht für Eisenmans Figuren oft nicht gut aus. In ihrem Bild „Support Systems for Women IV“ etwa sieht man vier Frauen in Gehhilfen aller Art eingezwängt, die ihren Bewegungsradius mehr behindern als befördern.

Im Gegensatz dazu malt Nicole Eisenman auch Situationen, in denen die Figuren bei sich sind, Muße, Freundschaft und Liebe genießen. Dabei fällt auf, dass es abgesehen von ausgesprochen queeren Orten ganz ähnliche sind wie gut hundert Jahre zuvor. Es sind Orte der Sommerfrische wie der Strand oder Biergärten, wo Menschen mit ganz unterschiedlichen Biografien zusammenkommen und gemeinsam trinken. Und dann ist da noch die Picasso abgeschaute Badende, die sich am Strand selbst befriedigt – eine sehr entspannte Hommage an den Maler. Eisenman zeigt stilistisch eine ganze Bandbreite, da sind die offensichtlichen Anleihen beim Comic, sie malt in Öl, figurativ, aber manchmal auch abstrakt, mal in eher wildem Duktus, mal geradezu feinmalerisch, sie zeichnet, collagiert und greift manchmal auf Schaum zurück. Und dann sind da noch die Wimmelbilder, die nicht auszuerzählen sind. Ganze Weltentwürfe könnte das Diptychon „Progress: Real and Imagined“ offenbaren, wenn es denn zu entschlüsseln wäre. Die Künstlerin selbst ist Teil des Ganzen und stellt sich, so wie sie mit einem Block auf einem Hocker sitzt, als Schöpferin dieser Welten dar. Unzählige Blätter kreisen um sie wie kleine Planeten. In Aarau kann man nun einen kurzweiligen und Horizont erweiternden Ausflug in dieses Universum machen.