Antony Gormley, Learning to be: Der Körper als Konstrukt und Vorstellung

Antony Gormley, Learning to be, Ausstellungsansichten Schauwerk Sindelfingen, Foto: Frank Kleinbach, © Antony Gormley
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24. November 2021
Text: Jolanda Bozzetti

Antony Gormley: Learning to Be.
Schauwerk Sindelfingen, Eschenbrünnlestr. 15, Sindelfingen.
Dienstag und Donnerstag 15.00 bis 19.00 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 24. April 2022.
www.schauwerk-sindelfingen.de
Zur Ausstellung erscheint im November 2021 ein Katalog:Kehrer Verlag, Heidelberg 2021, 168 S., ca. 39,90 Euro | ca. 50 Franken.

Antony Gormley, Learning to be, Ausstellungsansichten Schauwerk Sindelfingen, Foto: Frank Kleinbach, © Antony Gormley
Antony Gormley, Exercise between blood and earth, 1979-1981, © Antony Gormley
Antony Gormley, Flat Tree, 1978, © Antony Gormley

Die Mittagsruhe verbrachte er als kleiner Junge regungslos mit geschlossenen Augen im Bett liegend, Sonnenlicht erfüllte den Raum. Das anfängliche Gefühl von Hitze, Enge und Eingeschlossensein wich zunehmend einem angenehm freien Schweben in einem dunklen, kühlen, unendlich weiten Raum. So beschreibt der britische Künstler Antony Gormley (*1950) die prägende Erfahrung, die die Grundlage für sein gesamtes Werk legte: Die Erkundung des Körpers als Raum und des Körpers im Raum.

Das Intro seiner Retrospektive im Schauwerk Sindelfingen bildet eine Serie von vier Arbeiten aus den frühen 1990er Jahren, die auf Ganzkörper-Gipsabformungen des Künstlers basieren. Was er als Kind nur imaginierte, wurde so als konkrete physische Erfahrung der erste Arbeitsschritt zur Erstellung plastischer Werke, Körperhüllen aus Blei. Mit kompakt geschlossenen Armen und Beinen lehnen oder liegen sie an der Wand, alle Viere von sich gestreckt liegt eine mitten im Eingangsbereich auf dem Boden, eine andere wiederum verlängert die gestreckten Arme, als wolle sie die Wände zur Seite schieben. Vage Assoziationen zu Körperhaltungen des Yoga tun sich auf und verstärken sich beim Blick in die Skizzenbücher des Künstlers, die in Vitrinen ausgestellt intime Einblicke in den täglichen Arbeits- und Gedankenprozess geben. Tatsächlich unternahm Gormely in den Anfangsjahren seines Kunststudiums mehrere Reisen nach Indien und in die Länder des mittleren Orients. Er lernte Meditationstechniken und studierte den tibetischen Buddhismus. Der menschliche Körper als Ort der Erfahrung verschiedenster Seinszustände in Zeit und Raum wurde sein Thema.

In der zentralen Ausstellungshalle wird mit sechs in den letzten 20 Jahren entstandenen Skulpturen eine Auswahl präsentiert. Ausgangspunkt sind auch hier die Körpermaße des Künstlers selbst, Form und Volumen der plastisch nachgebildeten Körper variieren jedoch. So wirkt die ebenfalls in Blei geformte Arbeit „Cumulate (Breathe II)” wie eine aufgeblasene, kokonartige Schutzhülle eines Körpers, während „Insider V” durch Reduzierung des Volumens um zwei Drittel und den massiven Eisenguss eine knorrig-dürre Figur bildet. Andere Arbeiten in der Reihe lassen aus filigranen Edelstahlstäben flirrende Körper entstehen, die sich in vibrierende Energiefelder aufzulösen (oder zusammenzusetzen) scheinen. Während viele der Körper-Plastiken Gormleys aufrecht stehen oder zumindest fest im Boden geerdet sind, hängt die Arbeit „Flare II” (2008) scheinbar schwebend von der Decke herab. In dem zunächst wolkenförmig-abstrakt wirkenden Edelstahlnetz ist ebenfalls das Volumen eines menschlichen Körpers enthalten, das sich gleichförmig in den Raum ausdehnt. Für die Herstellung dieses und ähnlicher Werke der Serie „exposed expansion works” wandte der Künstler die Prinzipien der extrem schnellen Ausdehnung des Universums in Folge des Urknalls an.

Die Kategorien Zeit und Wachstum versinnbildlichen einige frühe Arbeiten Gormleys, etwa die Installation „One Apple” (1982). Eine dichte, lineare Abfolge kleiner Bleigehäuse zeichnet in 53 Schritten das Wachstum eines Apfels nach. Die Sinnlichkeit des organischen, in der Bleihülle eingeschlossenen Originalstücks – von der Blüte über den Kern bis zum reifen Apfel – kann nur imaginiert werden und wirkt durch den Kontrast des Materials umso stärker.

Eine ähnlich poetische und zugleich humorvolle Formulierung zeigt sich in der Arbeit „Room” (1980): hierfür zerschnitt Gormley einen kompletten Satz seiner Kleidung, von den Socken bis zur Jacke, in schmale Streifen und wickelte die zusammengebundenen Stofflinien um vier Pfosten herum zu einer durchlässigen Rauminstallation. An die Stelle des menschlichen Körpers tritt hier der architektonische Raum, Innen und Außen verschränken sich.