Gitte Villesen. it changed radically: grew fur again, lost it, developed scales, lost then: Die Magie des Realen.

Gitte Villesen, It changed radically: grew fur again, lost it, developed scales, lost them, 2021, Videostill, Courtesy the artist
Review > Karlsruhe > Badischer Kunstverein
15. November 2021
Text: Carmela Thiele

Gitte Villesen. It changed radically: grew fur again, lost it, developed scales, lost them.
Badischer Kunstverein, Waldstr. 3, Karlsruhe.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 19.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 5. Dezember 2021.
www.badischer-kunstverein.de

Gitte Villesen, It runs about like ants, 2014, Videostill, Courtesy the artist
Gitte Villesen, There is an Affinity, 2019, Videostill, Courtesy the artist

Traum und Wirklichkeit, Fiktion und Realität, zwischen diesen Polen navigiert das menschliche Bewusstsein. Gitte Villesen (*1965) erkundet Welten, die sich jenseits solcher Dualitäten auftun. In ihren Filmmontagen aus Sound, Text und bewegten Bildern entwickelt das Reale etwas Magisches. Das Irreale oder von der Norm Abweichende hingegen fungiert als Bollwerk gegen den Wahn der Konformität. Wie solche Umkehrungen funktionieren können, ist in ihrer Ausstellung im Badischen Kunstverein zu sehen. Im Zentrum stehen drei neue Filmarbeiten der Künstlerin, die auch als eine große Erzählung gelesen werden können.

Der Titel der Ausstellung „It changed radically: grew fur again, lost it, developed scales, lost them“ ist ein Zitat aus einem Roman von Octavia E. Butler. Er bedeutet so viel wie „es veränderte sich radikal, entwickelte ein Fell, verlor es, entwickelte Schuppen, verlor sie“. Bevor Villesen zur Bildenden Kunst kam, studierte sie Literatur. Feministische Science-Fiction-Romane begleiten die dänische Künstlerin bis heute. Lange war dieser Einfluss in ihren Arbeiten nicht sichtbar. Seit fünf Jahren integriert sie Zitate von Butler, Suzette Haden Elgin und Ursula K. Le Guin in ihre mit Archivmaterial und Naturaufnahmen angereicherten Film-Assemblagen.

Grundlage des Werks von Gitte Villesen ist ihr dokumentarischer Ansatz, den die Künstlerin nach ihrem Studium an der Königlichen Akademie der Bildenden Küns­te in Kopenhagen entwickelte. Sie führte Interviews mit Menschen, deren Geschichten zur Basis eines Films wurde. Für diese Form des authentischen Erzählens und Wiedererzählens ließ die Künstlerin die Interviewten etwas vor der Kamera sagen, tun oder zeigen. Diese Form des Erzählens taucht auch in ihren neuesten Arbeiten auf.

In dem für die Karlsruher Schau produzierten Film „It changed radically …“ arrangiert eine Frau Pflanzen auf einem weißen Blatt Papier. Sie legt ein zweites Blatt darüber, bevor sie das Papier vorsichtig durch eine Kupferstichpresse dreht. Der Abdruck der Wiesenblumen und Gräser erzeugt überraschende Farbnuancen und Strukturen. Entstanden ist eine neue Form der Monotypie.

Pflanzen und Tiere werden in ihrem Werk immer öfter zu den heimlichen Protagonisten ihrer Filme. Für „There is in Affinty“ filmte die Künstlerin in den Gewächshäusern des Botanischen Gartens in Berlin, für „It changed radically …“ eine Moorlandschaft in Dänemark. In „Deeply immersed in the content of a learning stone“ interviewte Gitte Villesen die Künstlerin Emma Wolf-Haugh in der Mineraliensammlung des Berliner Naturkundemuseums und filmte die in Dioramen ausgestellten präparierten Tiere.

Die Künstlerin arbeitet oft mit Kolleginnen zusammen, ihre Autorinnenschaft ist eine diskrete. Die Bilder der raumgreifenden Filminstallation „The Play, the Actor, the Improvisation“ entstanden am Rande einer Auftragsarbeit in Gambia. Dort besuchte sie mit dem Musiker Amadou Sarr das Dorf, in dem er geboren wurde. Sie filmte eine zweitägige Performance der Frauen-Theatergruppe, die mit ihren Stücken ihre Lebensbedingungen diskutieren. Für diese Aufnahmen interessierte sich der im Senegal arbeitende Theatermacher Saidou Ndiaye und schrieb ein Skript, das die Künstlerin dann für ihre Filminstallation nutzte.

Gitte Villesens Kunst der Zwischentöne hat auch eine engagierte Seite. Sie ehrt in Karlsruhe eines ihrer Vorbilder, die afroamerikanische Bildhauerin Beverly Buchanan, mit einer filmischen Archiv-Dokumentation. Politischer Widerstand ist in Form einer Recherche präsent, die den subversiven Aktionen eines Künstlerinnenpaares Claude Cahun und Marcel Moore in den 1940er Jahren auf der von den Deutschen besetzten Insel Jersey nachgeht. Der Fokus der Künstlerin aber liegt in der Faszination des Erzählens. Gitte Villesen: „Wenn ich Fiktion schreiben könnte, wäre ich Schriftstellerin geworden“.