Éric Baudelaire, Death passed My Way and Stuck This Flower in My Mouth: Das Schöne und der Tod

Éric Baudelaire, This Flower in My Mouth, 2021, Courtesy the artist, Foto: Kunst Halle Sankt Gallen, Sebastian Schaub
Review > St. Gallen > Kunsthalle St. Gallen
9. November 2021
Text: Annette Hoffmann

Éric Baudelaire: Death Passed My Way and Stuck This Flower in my Mouth.
Kunst Halle St. Gallen, Davidstr. 40, St. Gallen.
Dienstag bis Freitag 12.00 bis 18.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 28. November 2021.
www.kunsthallesanktgallen.ch

Éric Baudelaire, Camilla, September 10th 2021, 2021, Courtesy the artist, Foto: Kunst Halle Sankt Gallen, Sebastian Schaub
Éric Baudelaire, Carbon (emissions), January 2020 – June 2021, 2021, Courtesy the artist, Foto: Kunst Halle Sankt Gallen, Sebastian Schaub

Gegen Blumen kann man einfach nichts haben. Zart, bunt, vergänglich in ihrer natürlichen Schönheit und schon immer Gegenstand der Dichtung. All das widerstrebt dem, was Blumen auch sind, eine Handelsware im internationalen Wirtschaftssystem. Nur wenige Sekunden von Éric Baudelaires Videoinstallation „This Flower in My Mouth“ genügen, um zu verstehen, dass es beim Blumenhandel eher robust zugeht. Baudelaire (*1973), der 2019 mit dem Prix Marcel Duchamp ausgezeichnet wurde, hat den Film in diesem Jahr in Aalsmeer gedreht. Dort steht Europas größte Kühlhalle. Unvorstellbare 46 Millionen Blumen werden hier täglich umgeschlagen. Die Ankunft der Ware aus aller Welt bis hin zu ihrer Auslieferung unterliegt einer Choreografie des Kapitalismus. Kein Schritt, keine Handbewegung ist hier zu viel. Die Verpackungen werden entsorgt, während die Rosen noch verteilt, sortiert und gestutzt werden. Die Menschen, die hier arbeiten und die diversen Maschinen bedienen oder sich in das Ballett der Gabelstapler einreihen, sind nicht mehr als ein Rädchen im Getriebe.

Durch die fünf Projektionsflächen, auf denen in der Kunst Halle St. Gallen zeitlich leicht versetzt die Arbeit zu sehen ist, teilt sich etwas von der Mechanisierung der Abläufe mit. Und nicht zu vergessen sind auch die Temperaturen in der Halle und der hohe Einsatz von Herbiziden beim Anbau der Pflanzen. Der in den USA geborene und in Frankreich aufgewachsene Baudelaire studierte in Amerika Sozialwissenschaften, die Narrative, die er suchte, fand er jedoch in der Kunst. Doch noch immer beginnen seine Filme und Objekte mit der Recherche und speisen sich aus einem politischen Interesse an der Welt. Die Arbeiten des in Paris lebenden Baudelaire sind sowohl in Galerien als auch auf Filmfestivals zu sehen.

Der Titel des knapp halbstündigen Films hat Éric Baudelaire von Luigi Pirandellos Drama „The Man with the Flower in his Mouth“ entlehnt, das 1922 entstanden ist. Pirandello lässt einen Todkranken – die Blume im Mund ist ein Tumor – und einen Geschäftsmann, der seinen Zug verpasst hat und die Nacht in einer Kneipe verbummeln muss, aufeinandertreffen. Diese besondere Zeiterfahrung, hier das Wissen um die Kostbarkeit der vergehenden Lebenszeit, dort das Warten auf den ersten Zug am Morgen, ist der eigentliche Stoff des Stückes. Und ein bisschen überträgt sich dieses Gefühl auf den Arbeitsalltag der Beschäftigten in der Aalsmeerer Halle. Nicht grundlos jedoch verweist der Saaltext zur Ausstellung auf die Spanische Grippe, die zwei Jahre vor Erscheinen des Stücks ihr Ende fand. Denn die gesamte Ausstellung in der Kunst Halle St. Gallen ist eine Reaktion auf die Pandemie und die Veränderungen, die Pandemie und diverse Lockdowns mit sich brachten.

Am deutlichsten reflektieren die Arbeiten im letzten Raum die gegenwärtige Krise. Baudelaire hat für die Bildobjekte Begriffe wie Einsamkeit, Arbeitslosigkeit oder die Sterblichkeitsrate von Covid-19 in Suchmaschinen eingegeben und die so ermittelten Daten in Kurvendiagramme übersetzt. Die Schaubilder hat er in Paraffin auf Holz aufgetragen. Es ist nicht nur gut, sich immer wieder derartige Zahlen zu vergegenwärtigen, das herablaufende Wachs lässt das, was die Daten beschreiben, besonders prekär wirken. Baudelaire hat weitere Krisensymptome auch der letzten beiden Jahre aufgegriffen: die jährliche Kohlenstoffemission und der Bitcoin-Wert, gekoppelt an die Arbeitslosenquote, den Preis von Gold und Chrysanthemen. Es sind Katastrophenszenarien, die hier eine Visualisierung finden. So ganz kann man am Ende des Rundgangs durch die Ausstellung den Gedanken, dass der Mensch die Krankheit der Erde ist, nicht abwehren. Jedenfalls solange wir uns nicht als ein Teil der Natur verstehen, denn die wüsste oft Rat. In Apothekerflaschen unterschiedlicher Größe stehen mehrere Kamillenblüten, gepflückt am 10. September, einen Tag vor der Eröffnung der Ausstellung.