Harald Naegeli, Der Sprayer von Zürich: Kunst oder Sachbeschädigung?

Harald Naegeli, Flamingo, Filmstill aus Nathalie Davids Dokumentation, courtesy the artist
Bücher
1. November 2021
Text: Peter Boué

Harald Naegeli – der Sprayer von ZürichDokumentarfilm, CH/D 2021, Regie: Nathalie David, 97 Min.
Start: 4. November 2021 in der Schweiz, 5. Dezember 2021 in Deutschland.

Die Unsichtbare Skulptur. Der Erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys, Zeche Zollverein (Hg.), Essen 2021, 295 S, 29.80 Euro.

Kathrin Sonntag, Verlag für moderne Kunst, Wien 2021, 30 Euro | ca. 35 Franken.

Sina Niemeyer: Für mich. Ignoscentia, Ceiba Editions 2019, 96 S., 30 Euro | ca. 35 Franken.

Judith Vanistendael: Penelopes zwei Leben, Reprodukt, Berlin 2021, 176 S., 20 Euro | ca. 29.90 Franken.

Lutz & Guggisberg: Vergleichende Komparatistik, Editioni Periferia, Luzern 2021, 520 S., 83 Euro | ca. 95 Franken.

Beatriz Milhazes, Taschen Verlag, Köln 2021, 528 S., 60 Euro | ca. 35 Franken.

Auch wenn viele seiner aus der Linie bestehenden Figuren aus dem Stadtbild verschwunden sind: „Der Sprayer von Zürich“ ist nach wie vor vielen ein Begriff. Das Werk von Harald Naegeli (*1939), wie er mit bürgerlichem Namen heißt, ist seit Ende der 1970er Jahre öffentlich: schnelll überzogen seine filigranen, meist großformatigen Sprühzeichnungen die Wände Zürichs, als Ausdruck des Individuums gegen die Macht von Kapital und Konsum in der Bankenstadt. Hier hatte sich in den 1980er Jahren eine Gegenkultur entwickelt, in der auch das „L’imagination au pouvoir“ aus dem Mai 1968 noch nachklang. Mehrfach verurteilt wegen Sachbeschädigung setzte sich Naegeli 1981 vor einer drohenden Haftstrafe nach Deutschland ab, wurde aber aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen, ausgeliefert und zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Naegeli lebte anschließend sehr lange Zeit in Düsseldorf und ist erst 2020 nach Zürich zurückgekehrt. Nathalie David (*1963) ist Künstlerin und Dokumentarfilmerin. Ihr Film ist einem fortlaufenden Gespräch ähnlich, in dem der Künstler über sein Leben erzählt. Man beobachtet ihn beim Zeichnen in große Zeichenbücher – sein Medium ist nach wie vor die Zeichnung, die sich aus Linien zusammensetzt. Aber der Film erzählt auch die Historie des Sprayers und zeigt viele Graffitis, die einfach und schnell aussehen und doch in ihrer spezifischen Raumbezogenheit viel weiter greifen, und sei es bis zur Höhlenmalerei. Der Film ist ruhig, schneidet oft Aussagen Naegelis, die dieser gepostet hat, als Schriftbild hinein. Er zeigt den Künstler heute, auch den Aberwitz, der ihn kurz nach der Verleihung eines Kunstpreises in Zürich im letzten Jahr wieder mit einer Vorladung wegen Sachbeschädigung konfrontierte. Der Film und Naegeli kontern hier genüsslich mit dem Künstler in Aktion vor der Wand. Es ist auch die Begegnung mit einem kranken Mann, der mit schonungslosem Sarkasmus über den Tod spricht. Und ihn an die Wand bringt: 2020, im Jahr der Corona-Pandemie, überzog der 80-Jährige eine Reihe von Wänden Zürichs mit Bildern seines Totentanz-Zyklus.

Die Unsichtbare Skulptur. Der Erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beys

„La rivoluzione siamo Noi“, also: Die Revolution sind wir. Das verkündete Joseph Beuys in Italien auf einem Plakat, mit ihm als nach vorne Schreitenden im Bild. Vor 100 Jahren wurde Beuys geboren. In zahlreichen Ausstellungen konnte und kann man sich zuletzt seinem Werk nähern. In Essen hatte sich die Stiftung Zollverein in Kooperation mit dem Ruhrmuseum auf das umfangreiche Werk des Künstlers eingelassen. Titel der Ausstellung: „Die Unsichtbare Skulptur. Der Erweiterte Kunstbegriff nach Joseph Beuys.“ Das Geheimnisvolle in Inhalt und Form sind hier angesprochen und die Möglichkeit, einem Geheimnis mit neu zu erfindenden Zugangsweisen auf die Spur zu kommen. Der opulente Katalog zur Ausstellung versucht, die Spurensuche auf dem Weg über die weit verästelte Ideenwelt Beuys’ auszudehnen. Johannes Stüttgen, der viele Jahre mit Beuys gearbeitet hat, weist hier darauf hin, „dass das Werk und die künstlerische Praxis aus fundamentalen und gesellschaftlichen Bedürfnissen erwachsen sind.“ Beuys beginne aus dem Nichts zu schöpfen. Ein solcher Anfang führe den Menschen ins Denken. Das Denken sei ein plastischer Vorgang, der in der Theorie und als Form und in der Aktion realisiert wird. Aus diesem Prozess entsteht die soziale Plastik, ausgehend von der existentiellen Frage, in welcher Form wir über die Welt denken? 

Im Katalog kommen in den 14 Essays alle für ein Verständnis der Kunst von Beuys relevanten Realien und Essentialen zur Sprache. Zum Beispiel schreiben Carla Zimmermann über „Kunst und die Verteidigung der Natur“ und Joachim Weber zu „1000 Feuer – im Herzen der Menschen. Der Erweiterte Kunstbegriff vor Ort“. Weber spricht mit Stüttgen darüber, warum alle Menschen Künstlerinnen beziehungsweise Künstler sind. In etwa einem Drittel des Buches wird das visuelle Werk von Beuys dokumentiert: Hunderte von Fotos, begleitet von interpretierenden Texten, wurden ausgewählt. Es sind Zeugnisse aus dem Leben des Künstlers, Objekte – Zeichnungen, Plastiken, Installationen –, Beschreibungen etlicher seiner Performances und Bilder vieler, oft spektakulärer öffentlicher Auftritte im weiten Feld seiner Aktionen – sowie Hinweise auf seine eigenen Texte, auf Filme von und über ihn. – Ein Buch für alle, die in den fortwährenden revolutionären Prozess, den Joseph Beuys lebte, einsteigen wollen.
Josef Singldinger

Kathrin Sonntag

Die Berliner Künstlerin Kathrin Sonntag fragt in ihren Fotografien und Installationen, ab wann wir bereit sind, in einer Form etwas Lebendiges zu erkennen, das unsere Empathie weckt. Reicht der Blick eines Augenpaares? Ist es der Ausschnitt eines Unterhemds? Der Schwung einer gesprühten grünen Linie zwischen rankenden Pflanzen? Antworten gibt sie in einem schönen BIldband, der nun zum Abschluss ihrer jüngsten Soloschau im Kunstmuseum Solothurn erschienen ist. 
Dietrich Roeschmann

Sina Niemeyer, Für mich, Ignoscentia

Die Fotografin Sina Niemeyer wurde in ihrer Kindheit von einem Bekannten ihrer Eltern sexuell missbraucht. Dass sie als Untertitel für ihren eindringlichen Bildessay über das Leben mit dieser traumatischen Erfahrung „Ignoscentia“ wählt, ist verstörend. Sollen Täter tatsächlich mit Vergebung rechnen dürfen? Aber auch diese Frage ist berechtigt: Sollen Menschen, die Missbrauch erfahren haben, nie vergeben dürfen? Niemeyer stößt mit ihrer zutiefst persönlichen Erkundung der körperlichen und seelischen Spuren sexualisierter Gewalt in heikles Terrain vor. In der Videoarbeit zum Bildband stellt sie ihren Peiniger zur Rede und macht deutlich, wie wichtig diese Konfrontation für die Rückeroberung der Kontrolle und das Wiedererwachen ihrer eigenen Stärke war. 
Dietrich Roeschmann

Judith Vanistendael, Penelopes zwei Leben

Als die Comicautorin Judith Vanistendael 2017 für eine Reportage das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besuchte, lebten dort 6.000 Menschen. Im September 2020 waren es 20.000, die ihr Hab und Gut in den Flammen des abbrennenden Lagers verloren. In ihrer jüngsten Graphic Novel verarbeitet die Belgierin ihre Begegnungen mit Kriegsflüchtlingen in Moria in der fiktiven Geschichte einer Medizinerin, die für Ärzte ohne Grenzen in Aleppo arbeitet und während einer zweimonatigen Pause bei ihrer Familie in Brüssel vergeblich versucht, den Krieg und die Kinder hinter sich zu lassen, denen sie auf dem OP-Tisch nicht mehr helfen konnte. In zarten Aquarellen und mit großer Empathie erzählt Vanistendael die bewegende Geschichte eines Doppellebens zwischen Verantwortung, Trauma, Verlustangst und der Sehnsucht nach Nähe.
Dietrich Roeschmann

Lutz & Guggisberg, Vergleichende Komparatistik

Seit zwanzig Jahren sägt und klebt das Zürcher Künstlerduo Lutz & Guggisberg an einer skurrilen Bibliothek erfundener Bücher ohne Seiten. Die rund 450 Cover, auf Sperrholzblöcke montiert und in Kapitel wie „Kinder kochen“ oder „Schund & Psychologie“ sortiert, führen ein in ein absurdes Universum, in dem Bücher zu Bildobjekten werden und zu Fan-Artikeln für Humorikonen von Dada bis Fischli/Weiss.
Dietrich Roeschmann

Beatriz Milhazes

Seit gut vierzig Jahren sprengt Beatriz Milhazes mit ihren ornamentalen Farbexplosionen Löcher ins Alltagsgrau. In den abstrakten Tropenlandschaften, die sich dahinter auftun, lässt sie folkloristische Elemente aus der brasilianischen Kultur auf die Formensprache der Moderne treffen, gerne unter dem barocken Diktat purer Verschwendung. Müssen wir uns da wundern, dass das übergroße, kiloschwere Buch zum Lebenswerk dieser Kämpferin für Schaulust und die Sichtbarkeit von Frauen in der Kunst Südamerikas in einen regelrechten Bilderrausch ausartet? Nein, müssen wir nicht.
Dietrich Roeschmann