Camillo Paravicini

Camillo Paravicini, Bank, 2021, Ausstellungsansicht Bündner Kunstmuseum, Courtesy the artist, Foto: Camillo Paravicini
Porträt
2. Juli 2021
Text: Annette Hoffmann

Camillo Paravicini: Hart, aber fair. Manor Kunstpreis Chur 2020.
Bündner Kunstmuseum, Postplatz, Chur.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 15. August 2021.
www.kunstmuseum.gr.ch

Camillo Paravicini: Über alles im Bilde. Vexer Verlag, St. Gallen / Berlin 2021, 110 S., 23 Euro | 25 Franken.

Camillo Paravicini, Janus / Battle of Trafalgar, 2021, Courtesy the artist, Foto: Camillo Paravicini
Camillo Paravicini, Improvisation mit Sportsocke, 2021, Courtesy the artist, Foto: Camillo Paravicini
Camillo Paravicini, Carlos, 2021, Courtesy the artist, Foto: Camillo Paravicini

Eigentlich ziemlich keck so eine Kohlmeise. Das Kopfgefieder leicht aufgestellt, als sei etwas zwar zum Haaren raufen, aber auch so als bräuchte man nur ein bisschen Tatkraft und alles könnte sich schnell in Wohlgefallen auflösen. „Gesichter des Alltags“ heißt Camillo Paravicinis Serie Schwarzweiß-Fotografien von großformatigen Vogelporträts vor neutralem Hintergrund. Auf 150 mal 120 Zentimeter sind sie hochgezogen, man sieht die feinste Feder. Hätten wir es nicht mit Singvögeln zu tun, sondern mit Menschen, wären es Brustporträts – was einiges über die stille Macht der Porträtierten aussagt. Es sind sozusagen Entscheider, die im Verborgenen der Gartenhecken und Apfelbäume auf ihren Moment warten, der alles verändern könnte. Die kleinen Zeichnungen auf gelben und orangefarbenen Blättern, die auf der letzten Regionale im Kunst Raum Riehen „Un certain regard“ locker daneben, darüber und darunter gehängt waren, wirkten eher niedlich: hier ein haariges Bein, dort wurde gebadet oder gegrillt. Das ganze sinnlose Menschheitstheater. So kindlich wie uns Spatzen, Meisen und Rotkehlchen eben erscheinen, wenn wir einmal unseren Blick von Wichtigerem abwenden und er auf sie fällt.

Für die 2018 entstandene Serie wurde Camillo Paravicini mit dem Kunst Preis Riehen ausgezeichnet. Paravicini, der 1987 in Poschiavo geboren wurde und in Lausanne und Glasgow studierte, lebt mittlerweile in Basel und leitet hier zusammen mit Eva-Maria Knüsel den Off-Space „Mayday“. „Gesichter des Alltags“ sind alles andere als Schnappschüsse, es muss dem selbst ernannten Vogel-Enthusiasten einiges abverlangt haben bis er die Kopfhaltung hatte, die er wollte. Was sich ändert, wenn Kleines plötzlich monumental wird, ist eine Frage, die Camillo Paravicini grundsätzlich interessiert. Dies zeigt sich auch in seiner aktuellen Ausstellung im Bündner Kunstmuseum anlässlich des Manor Kunstpreises Chur. Für „Hart, aber fair“ hat er im Ausstellungsraum eine Architektur installiert, die einen Rahmen für eine ziemlich klägliche Bepflanzung bildet und zugleich als eine Art Museumsbank dient. Nur, der Abstand stimmt eben nicht. Die Bilder an der Wand, die in bedeutungsschwangeren Rahmen gefasst sind, lassen sich aus dieser Distanz nicht erkennen. Man muss also aufstehen und mit dem eigenen Körper Maß nehmen, so wie es der Künstler in der Videoarbeit von 2011 „Manuela sah mich lange und nachdenklich an“ immer wieder getan hat.

Humor ist im Werk von Camillo Paravicini oft das Mittel einer solchen Distanzverkürzung oder Perspektivveränderung. Neun fotorealistisch gemalte, vollgesogene Zecken sind 2010/15 auf kleinem Format entstanden. Der zum Platzen gefüllte Leib, der von unterschiedlichen Seiten dargestellt ist, glänzt gerade zu. „In the mood for Love“ hat Paravicini die Serie genannt, was die romantische Liebe zu einer ziemlich parasitären Angelegenheiten macht, zugleich aber ironisiert das abstoßende Motiv die handwerkliche Brillanz. Paravicinis Arbeiten hinterfragen große Mythen der Kunst, wie die Rolle des Künstlers, so tritt er öfters in seinen eigenen Arbeiten auf, oder bedeutende Stilrichtung. In der Schau „Splendid isolation. Not in our name“ war er im Kunst Raum Riehen mit „nine white sculptures“ beteiligt, die ein bisschen an die Skulpturen Alberto Giacomettis erinnerten. Nur, dass es so gar nicht raunen wollte, denn die Skulpturen grummelten, war man ihnen nur nah genug.