Corona Studios II: Lea Torcelli

Lea Torcelli in Interaktion mit Inga Kummernuß, Phyto_Lotis (3031) (2020), Mixed Media Installation, Ausstellungsansicht, Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk Freiburg. Im Rahmen der Ausstellung SONGS FROM THE END OF THE WORLD als Teil der Regionale 21, 2020/21. Foto: Marc Doradzillo
Thema > Corona Studios II
19. März 2021
Text: Lea Torcelli

Lea Torcelli, *1994 in Freiburg im Breisgau, lebt und arbeitet in Köln.

Phyto_Lotis (3031) (2020) in Interaktion mit Inga Kummernuß ist Teil der Gruppenausstellung SONGS FROM THE END OF THE WORLD in der Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk Freiburg, kuratiert von Heidi Brunnschweiler und Jana Spät im Rahmen der Regionale21.

Mehr Informationen zur Arbeit unter www.phyto3031.org

Am 6. Mai 2021 findet ein online Vortrag der Künstlerin über die Arbeit Phyto_Lotis (3031) statt. Mehr Infromationen und Terminbuchung für den Ausstellungsbesuch unter www.gegenwartskunst-freiburg.de

Im Februar 2021 ist die Single “Deep in a Mine” ihrer Band she-dog als Musikvideo erschienen.

Lea Torcelli, The Fall of Phaeton (2020), Video Still, Found-Footage Material, 3 Kanal, 9:03 min, Loop. Teil der Arbeit: Phyto_Lotis (3031) (2020), Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk Freiburg. Im Rahmen der Ausstellung SONGS FROM THE END OF THE WORLD als Teil der Regionale 21, 2020/21.
Lea Torcelli, Phytofötus (2020), Screenshot, Live-Stream auf einer Gaming-Platform. Material: Mikroskopkamera, Wasserspeichergranulat, Pflanzenlampe, Glasschale, Lotussame. Teil der Arbeit: Phyto_Lotis (3031) (2020) in der Ausstellung SONGS FROM THE END OF THE WORLD, Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk Freiburg.
Lea Torcelli in Interaktion mit Inga Kummernuß, Phyto_Lotis (3031) (2020), Mixed Media Installation, Ausstellungsansicht, Archiv, Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk Freiburg. Im Rahmen der Ausstellung SONGS FROM THE END OF THE WORLD als Teil der Regionale 21, 2020/21. Foto: Marc Doradzillo
Lea Torcelli in Interaktion mit Inga Kummernuß, Phyto_Lotis (3031) (2020), Mixed Media Installation, Detailansicht Archiv, Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk Freiburg. Im Rahmen der Ausstellung SONGS FROM THE END OF THE WORLD als Teil der Regionale 21, 2020/21. Foto: Marc Doradzillo
Lea Torcelli in Interaktion mit Inga Kummernuß, Phyto_Lotis (3031) (2020), Mixed Media Installation, Detailansicht Archiv, Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk Freiburg. Im Rahmen der Ausstellung SONGS FROM THE END OF THE WORLD als Teil der Regionale 21, 2020/21. Foto: Marc Doradzillo

In welcher Gegenwart befinden wir uns?

Ich sah die Bilder zuerst in den Nachrichten. Der Himmel hatte sich rot gefärbt. Die Sonne konnte nicht durch die Rauchdecke dringen. Es schien wie eine seltsame, lang andauernde Nacht; eine Atmosphäre, die ich sonst nur aus Science-Fiction Filmen kannte. Und dann kam das Bild, das auslösend für einen langen Prozess sein sollte. Eine Brücke – die ich in diesem Moment für die Golden Gate Bridge hielt – vor rotem Himmel, mit brennenden Wäldern im Hintergrund. Es sah fast aus als würde die Brücke selbst brennen. In den Actionfilmen, Weltuntergangsszenarien und Alieninvasionen Hollywoods kommt die Golden Gate Bridge in den letzten Jahren immer wieder als Metapher für ›die Errungenschaften der zivilisierten Gesellschaft‹ vor, welche durch Natureinwirkungen (z.B. Überschwemmung) oder durch andere apokalyptische Szenarien in einem dramatischen Moment zusammenbricht. Im Internet finden sich Compilations, welche genau diesen Moment, in einer endlosen Wiederholung desselben Narrativs, visuell zusammenfassen. Als ich also diese Bilder einer (fast brennenden) Brücke, die ich immer noch für die Golden Gate Bridge hielt, vor einem eigenartig rot gefärbten Himmel sah, fühlte ich mich in eine dieser dystopischen Fiktionen versetzt: Eine Welt in der ein unbekanntes Virus ausbricht, was wiederum eine globale Pandemie auslöst und ein rot gefärbter Himmel mit einer (fast) brennenden Golden-Gate ähnlichen Brücke. Unsere Gegenwart im Jahr 2020.

In der Videoarbeit Fall of Paethon (2020) verarbeite ich dieses Gefühl. Hier sammelte ich Found-Footage Material aus dem Internet, welches die Auswirkungen der Waldbrände in Kalifornien im September 2020 dokumentiert. Nach Australien und Sibirien reihte sich dieses Ereignis in die extreme Feuersaison dieses Jahres ein. Das Magazin die Zeit betitelte es rückblickend als »Jahr des Feuers«: »Im Zuge des Klimawandels und der damit verbundenen Dürren und Hitzeperioden werden schwere Waldbrände häufiger und noch heftiger.« Paethon ist in der griech. Mythologie der Sohn des Sonnengottes Helios. Action- und Science-Fiction-Geschichten, sind historisch gesehen nicht die einzigen rhetorischen Bereiche, in welchen Visionen von möglichen, dystopischen oder utopischen Zukünften eine Rolle spielen. Auch in Mythologien brennen zukünftige Welten: Paethon versucht eines Tages den Sonnenwagen seines Vaters zu lenken, was ihm nicht gelingt. Er stürzt auf die Erde und reißt mit sich die Sonne herab. Die Folge ist eine globale Naturkatastrophe: »Überall dort, wo die Erde am höchsten ist, wird sie vom Feuer ergriffen, bekommt Spalten und Risse und dörrt aus, weil ihr die Säfte entzogen sind. […] Große Städte gehen mit ihren Mauern unter, und der Brand legt ganze Länder mit ihren Völkern in Asche«. Eine antike Vision der nahenden Klimakatastrophe?

Narrative und Visionen sind fester Bestandteil von Prozessen der Forschung und der Geschichtsschreibung: Die Menschheit erzählt sich schon immer Geschichten und schreibt Geschichte. Donna Haraway bringt dies auf den Punkt, wenn sie schreibt: »Geschichte ist eine Erzählung die sich die Fans westlicher Kultur gegenseitig erzählen«. Wir erzeugen Fiktionen, die zumindest teilweise zu Realität werden. Wir träumen vom Morgen und verweben das Gestern ins Heute.

Die Erkenntnis »Meine Gegenwart 2020 könnte 1:1 ein dystopisches Zukunftsnarrativ aus der Vergangenheit sein« war der Ausgangspunkt für die Arbeit Phyto_Lotis (3031) (2020), eine raumgreifende, multimediale Installation, Website und Labor-Live-Stream in der Galerie für Gegenwartskunst im E-Werk Freiburg. Ich habe mir vorgestellt, wie Menschen im Jahr 2020 unter Hygieneauflagen den Ausstellungsraum in der Galerie für Gegenwartskunst betreten werden. Ich sah eine Person mit einer medizinischen Maske durch einen Ausstellungsraum laufen und ihren Blick auch auf andere Besucher*innen fallen, die ebenfalls medizinische Masken trugen. Ich erkannte eine historisch einzigartige Situation, die ich positiv nutzen wollte, um sie in die Rezeptionserfahrung meiner Arbeit einfließen zu lassen. Diese Erfahrung, mit einer Maske einen Raum zu betreten (und die dadurch aufkommenden, verbundenen Gefühle) und andere Menschen mit Masken zu betrachten, sollte selbst Teil der Arbeit werden. Für die Arbeit habe ich ein Science-Fiction-Narrativ entwickelt, welches in der Ausstellung ähnlich eines filmischen ›Vorspanns‹ abläuft. Das Narrativ um (429) Lotis’ Einschlag auf die Erde im Jahr 2991 verwebt verschiedene Schichten miteinander. Wie in The Fall of Paethon (2020) überlagern sich ein mythologisches Narrativ und die Gegenwartsreflektion. Idee ist, eine reflektive Rückführung vom Sci-Fi Narrativ ins Heute 2020 zu schaffen. Also gewissermaßen ein dystopisches Bewusstsein der Gegenwart zu schaffen. Die Masken der Besucher*innen und die Arbeit Fall of Paethon (2020) sind dabei kleine Hints, die aus der Zukunft in die Gegenwart verweisen.

In der Kunstgeschichte zeugt das Wort der Zeitgenossenschaft davon, dass es unmöglich ist, die eigene Zeit und deren Dimensionen in größeren Zusammenhängen reflektieren zu können. Es handelt sich dabei um ein Paradox, insofern versucht wird, die eigene Gegenwart zu historisieren. Das Paradox ist letztlich in dem Nicht-heraus-treten-können aus der eigenen Zeit-Perspektive begründet. Das Erzählen von Zukunftsnarrativen kann deshalb eine Technik sein, diesem Paradox zu entgehen und über die Gegenwart zu sprechen, ohne über die Gegenwart zu sprechen. Es gilt eine zukünftige Perspektive, eine Vision zu öffnen, welche letztlich die Gegenwart auf Umwegen reflektieren kann.

Weitere Hintergründe zur Arbeit Phyto_Lotis (3031) unter www.phyto3031.org


Vier Fragen an Lea Torcelli

Hast du staatliche Hilfen beantragt? Wenn nicht, warum nicht – wenn ja, wurden sie bewilligt? Gab es ausgefallene oder verschobene Ausstellungen, Veranstaltungen, Stipendien, Jobs, Reisen, gab es Verkäufe?
Nach einer ersten Zeit der Ungewissheit und einigen verschobenen Konzerten mit meiner Band she-dog, hatte ich das Glück für die Regionale und den Art’s Birthday Freiburg Arbeiten erstellen zu können, wofür ich honoriert wurde. Ich hatte so das Privileg, diese Krise für mich als Potenzial zu nutzen. Durch die beiden Ausstellungen im E-Werk Freiburg konnte ich meine künstlerischen Arbeiten in diesem Jahr weiterentwickeln. Mit meiner Band she-dog konnte ich die Zeit nutzen an Aufnahmen unserer Songs zu arbeiten. Unter Hygieneauflagen konnten wir ein paar vereinzelte Konzerte spielen und zwei Singles mit Musikvideos veröffentlichen.

Hat sich deine Arbeit während des letzten Jahres verändert?
Die Regionale21 Ausstellung SONGS FROM THE END OF THE WORLD konnte 2020 nicht räumlich eröffnet werden. Die Beschäftigung mit Fragen der ›Systemrelevanz‹ von Kunst und das akute Umdenken-müssen in der Arbeit mit bestimmten, raumwirkenden Medien hat einen Prozess weitergeführt, den ich bereits vorher in mir selbst angeregt hatte. Mich hat diese Zeit darin gefestigt, Kunst als Disziplin mit politischem, visionären Potenzial zu begreifen. Ich habe dabei versucht die Situation produktiv umzugestalten, sodass ich auch kuratorische Entscheidungen in der Ausstellung angeregt habe, welche sich konkret auf die Situation einer ›geschlossenen Ausstellung‹ bezogen. Neben der Entwicklung von online-Formaten, welche mit dem realen Raum interagieren, war das beispielsweise auch bezogen auf die Entscheidung, Bildschirme nicht nur auf Höhe der Samen, sondern auch auf gute Höhe für die womöglich einzigen Besucher*innen der Ausstellung anzupassen, die Mäuse.

Welchen Einfluss hat der langfristige Lockdown auf den Austausch mit anderen? Was macht das mit der Kunstszene?
Wir umgeben uns – soweit es uns möglich ist – nur noch mit Menschen, die ›zu uns gehören‹ und ›wie wir sind‹. Wir kommen kaum in direkten Kontakt mit Menschen, die anders denken oder andere Lebensrealitäten haben. Ich denke, wir müssen Wege finden, um uns auch mit Menschen auseinandersetzen zu können, die nicht zu unserem privaten, inneren Kreis gehören und uns dahingehend herausfordern.

Die Kultur war schnell und hart betroffen und ist es nach wie vor, bislang unabsehbar. Wie hätte ein anderer Umgang mit Kunstschaffenden aussehen können? Wie soll es weiter gehen, was muss anders werden?
Ich denke, der sehr irreführende Begriff von ›Systemrelevanz‹ muss in jedem Fall hinterfragt werden. Es müssen außerdem mehr sinnvolle Entscheidungen getroffen werden, in welchem Bereich Öffnungen unter Hygieneauflagen ungefährlich sind. Ich denke, nachvollziehbare Entscheidungen würden auch zu weniger Frust in der Bevölkerung führen und so Kooperationsbereitschaft – also das Gefühl von einem gemeinsamen Überwinden dieser Krisensituation – fördern. Generell denke ich, dass Kunst und Kultur einen wesentlichen Beitrag leisten können, wenn es um die psychische und politische Gesundheit einer Gesellschaft geht, was nicht zu verachten ist.


Corona Studios II ist ein Projekt der Redaktion artline.org,
ermöglicht dank großzügiger Unterstützung vom Kulturamt der Stadt Freiburg