Berührend. Annäherung an ein wesentliches Bedürfnis.
Paula-Modersohn-Becker-Museum, Böttcherstr. 6, Bremen.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 11. April 2021.
[—artline Nord] Ohne die Corona-Pandemie hätte es diese Ausstellung nicht gegeben. Die Kontaktbeschränkungen brachten Kurator Frank Schmidt auf das Thema der Nähe. Mit der Abstandserfahrung blickte der Direktor der Bremer Museen Böttcherstraße neu auf die eigene Sammlung. Bemerkenswert, wie viele Werke Berührungen behandeln. Mit rund 60 Arbeiten in sechs Themenräumen folgt die Schau dem Motiv vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ein breites Spektrum menschlicher Erfahrungen und Empfindungen: Liebe, Geborgenheit, aber auch Bedrängnis, Übergriff und Schmerz. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, was und wie Kunst „berührt“, gilt doch in Museen schon immer: Nicht anfassen!
Zwei Werke zum Auftakt zielen provokant auf diesen Aspekt. In der Serie seiner Museumsbilder wirft Thomas Struth einen Blick in die Stanzen des Raffael in den Vatikanischen Museen. Das Publikum drängt sich durch die Säle zur Sixtinischen Kapelle. Manche zeigen auf die Fresken, andere lesen in einem Buch. Bewegungsunschärfen deuten Eile an, viele scheinen allein mit der Bewältigung des Gedränges beschäftigt. Kann Kunst in solcher Beklemmung berühren? Oder erfüllt das Eintauchen in die Masse als Beglaubigung der visuellen Sensation nahe dem Original die Besucher? Timm Ulrichs verschränkt verschiedene Schichten des Themas in einer vertrackten Bildpointe. Sein eisernes „Buch der Berührungsängste“ trägt in Blindenschrift „unter Strom gesetzt“ die biblische Zeile „Noli me tangere“.
Beispiele von „Selbstberührung“ dokumentieren den eindringlichen Zeichencharakter körperlicher Gesten. In Cranachs „Schmerzensmann“ öffnet Christus mit gespreizten Fingern seine Wunde dem tastenden Auge des Betrachters. Paula Modersohn-Beckers „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ zeigt die Malerin selbstbewusst und herausfordernd entblößt, ein revolutionärer Akt und eine Inkunabel der Emanzipation in strenger formaler und farblicher Reduktion. Hände und Arme um den gewölbten Bauch gelegt, verweist das Bild auf den Kinderwunsch, aber auch auf künstlerische Schöpfungskraft, Dokumentation weiblichen Selbstverständnisses. Modersohn-Becker liefert auch die eindringliche Darstellung einer Symbiose von Mutter und Kind, Archetyp elementarer Nähe. Breiten Raum nimmt die Berührung als Austausch von Zärtlichkeit ein, speziell der Kuss. Isabel Reitemeyer gestaltet ihn als Verschmelzung, als Ineinandergleiten zweier Menschen, als Auslöschen oder Überblenden der einzelnen Identitäten in einem Körpergrenzen öffnenden Wir. Cornelia Schleime zeigt den Kuss in einem monumentalen Close-Up mit expressiv fließenden Farben als überquellende Gefühlslandschaft. Man darf sich an triefende Filmszenen in Cinemascope erinnern. Auf stille intensive Weise berührend wirkt Robert Mapplethorpes Fotografie der Umarmung eines weißen und eines schwarzen Mannes. Das Zusammenspiel der Haare, der Linienschwung der Arme, die Korrespondenz der Körperfarben: Motiv und Form gehen ineinander auf.
Neben der Zärtlichkeit ist aber auch Gewalt als Form der körperlichen Begegnung präsent. Die Ohrfeigen-Performance von Ulay und Marina Abramovic führt die Protagonisten und das Publikum an Grenzen des Erduldens und Zufügens von Schmerz. Wenn Pipilotti Rist ihr Gesicht in schmerzenden Verzerrungen an einer Scheibe reibt, dann dringt die Leiblichkeit fühlbar durch die einebnende Trennwand. Durch die beschlagene Scheibe in der U-Bahn von Tokyo fotografiert, scheint ein Mann mit Mund-Nasen-Bedeckung die bedrängende Enge mit geschlossenen Augen und betenden Händen demütig zu ertragen. Was berührt, ist der vitale Versuch, in der erdrückenden Menge bei sich zu bleiben. Die vergnüglichste Arbeit zum Schluss: Stefan Balkenhol lässt Paare zum Gesellschaftstanz antreten. Steife Gesten hölzerner Figuren mit uniformen Kleidern in standardisierten Bewegungen und stilisierten Berührungen, ritualisierte Körperlichkeit und Nähe, Anstandsabstand im Kontaktgebot.
[Rainer Beßling]