Beyond the Pain.
Städtische Galerie Sindelfingen, Marktplatz 1, Sindelfingen.
Montag bis Freitag 10.00 bis 18.00 Uhr, Samstag und Sonntag 10.00 bis
17.00 Uhr.
Bis 30. Mai 2021.
www.galerie-sindelfingen.de
Eine Ausstellung über Schmerz? Wer nun unwillkürlich die Zähne zusammenbeißt, kann aufatmen. Geht es in „Beyond the Pain“ in der Galerie der Stadt Sindelfingen doch vor allem um die Überwindung von Leiden aller Art. Dennoch ist die Schau der zwölf Künstlerinnen und Künstler eine intensive Erfahrung. Ein strahlend blauer Wolkenhimmel empfängt die Besuchenden im Treppenaufgang der Schau „Beyond the Pain“. Deutet er die Transzendierung des Schmerzes an oder den Rausch, in dem man wohl nach dem Genuss zu vieler Schmerzmittel schwebt? Die Medikamentenvitrine „The Quay“ von Damien Hirst (*1965), die teils einem Reliquienschrein, teils dem Lager eines Süchtigen ähnelt, konnotiert beides. Die Ambivalenzen von Leiden und der Kraft, die aus der Überwindung entsteht, ziehen sich durch die gesamte Ausstellung. „Es geht mir darum, die positiven Aspekte des Schmerzes zu zeigen“, betont die Galerieleiterin Madeleine Frey, die mit Sebastian Schmitt die Schau kuratiert hat. Die Ausstellung beleuchtet das Thema Schmerz in all seinen Facetten.
Einen spielerischen Ansatz wählt Barbis Ruder (*1984). In ihrer Installation „Lean in“ mit Video, Zeichnungen und einem Turnbock beschäftigt sie sich mit der Rückbeuge im Yoga. Die strapazierende Übung soll dabei helfen, Ängste zu überwinden und Mut zu fassen. In einem psychedelischen Video vollführt Ruder die Beuge spielend. Mit ihrer Arbeit stellt sie die Rückenbelastung aber auch in Frage.
Therapie betreibt die Gruppe Forensic Architecture, und zwar mit ehemaligen Insassen von Assads Foltergefängnis Saydnaya. Da die Traumatisierten die Anlage meistens im Dunklen erlebt haben und ihre Existenz bestritten wurde, möchte die Gruppe mittels Computer den Ort visualisieren. Nun wird die unmenschliche Architektur, die darauf ausgerichtet war, Gefangene zu zermürben, sichtbar. Auch um Traumaarbeit dreht sich ein Film von Harun Farocki (1944-2014): Ehemalige Soldaten aus dem Irak setzen sich in einer Animation mit ihren Erlebnissen auseinander. Oder handelt es sich um ein Marketing-Video für Konfrontationstherapie? Die Arbeit bietet mehrere Wahrnehmungsebenen.
Lust und Schmerz verbindet Nobuyoshi Araki (1940) in seiner Fotoserie „Tokyo Novelle“ mit Aktbildern von Gefesselten. Die Kunst des aufwändigen Verschnürens – Shibari – ist in Japan längst mitten in der Gesellschaft angekommen. In ein BDSM-Studio hat sich auch die Stuttgarterin Gabrielle Zimmermann (1971) begeben, das Scheppern der Gerätschaften aufgenommen und sie mit einem niederfrequenten Dröhnen unterlegt. Wer sich in die „Black Box“ der Installation begibt, schwankt, ob er Kontroll- und Sinnesverlust oder Lustgewinn erlebt. Lust dürfte die Stute in der Fotoserie von Marianna Simnett (*1986) sicherlich nicht empfinden, die sich im Namen des Rennpferdkapitalismus decken lassen muss. Umso lustvoller keilt sie nach dem Hengst aus. Mit der Serie, in der jeweils sechs Bilder verschmelzen und die an Eadweard Muybridges Animationen galoppierender Pferde erinnert, hat Simnett das Oktogon in der Galerie mustergültig in Szene gesetzt. In eine Ohnmacht hyperventiliert sie sich in einer zweiten eindrücklichen Audio- und Lichtinstallation hinein. Die Synkope war für ihren Großvater lebensrettend: Er überlebte so im Zweiten Weltkrieg ein Erschießungskommando.
Für Body-Enhancement hat sich die Multimediakünstlerin Viktoria Modesta (1988) aufgrund einer Beeinträchtigung nach ihrer Geburt entschieden. Sie hat ihr Bein amputieren lassen und setzt es jetzt als stählernen Stachel mit Superwoman-Videos in Szene. Den etwas esoterischen Schlusspunkt der Schau bildet Patrycja Germans (1979) Performance-Installation mit weißem Knisterboden. Sie möchte sich dort in der „Quantenheilung“ versuchen. Vielleicht lindert es ja den Schmerz, ist der doch auch ein psychisches Geschehen.
[Anne Abelein]