Arbeitsgruppen: Politiken des Kunstmachens

Review > Stuttgart > Künstlerhaus Stuttgart
15. November 2020
Text: Jolanda Bozzetti

Arbeitsgruppen.

Künstlerhaus Stuttgart, Reuchlinstr. 4B, Stuttgart.
Dienstag bis Sonntag 12.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 19. Dezember 2020.

www.kuenstlerhaus.de

Es war ein illustrer Kreis an Kunstschaffenden, der im Januar 1994 an der Universität Lüneburg zusammenkam. Die Künstlerin Andrea Fraser und der Kunsthistoriker Helmut Draxler hatten zu einer zweitägigen Arbeitsgruppe eingeladen, um die aktuelle Situation im Kunstfeld zu diskutieren. Ausgangspunkt war die Feststellung, dass projektgebundene, ephemere Kunst zunehmend einem Arbeitsmodell der Dienstleistung entspreche. Diesen Umstand sahen die Organisatoren als eine neue Entwicklung im Feld der zeitgenössischen Kunst, die sich heute, gut 25 Jahre später, tatsächlich als prophetisch erweist. Prominente Vertreterinnen institutionskritischer Kunst – neben Fraser u.a. Renée Green und Fred Wilson – waren an der Diskussion ebenso beteiligt wie namhafte Kuratorinnen, u.a. Iwona Blazwick, heute Direktorin der Whitechapel Gallery in London oder Ute Meta Bauer, Direktorin des Centre for Contemporary Art in Singapur und damals Leiterin des Künstlerhaus Stuttgart. An einem großen Tisch wurden in einer europäisch-amerikanischen Gesprächsrunde Fragen wie die nach verschiedenen Finanzierungsmodellen öffentlicher Kunstinstitutionen, die zunehmende Bedeutung privater Sponsoren oder der Status künstlerischer Autonomie innerhalb einer an kapitalistischen Marktlogiken orientierten Kunstwelt diskutiert. Die zeitliche Distanz geht aus den Aufnahmen deutlich hervor: Statt Smartphones liegen Papier und Stifte auf dem Tisch, Ausstellungsprojekte werden in Diavorträgen präsentiert, weiteres analoges Arbeitsmaterial hängt in Form von meist mit Schreibmaschine verfassten Briefwechseln und Presseberichten an den Pinnwänden. Inhaltlich überrascht jedoch die Aktualität – an vielen Stellen könnte es eine Diskussion von heute sein. Mehr noch. Viele damals diskutierte Probleme sind heute gravierender denn je. Zu wachsender Konkurrenz und prekären Arbeitsverträgen kamen jüngst neue, pandemiebedingte Finanzierungssorgen.

Diese Aktualität ist Ausgangspunkt für die jetzige Ausstellung „Arbeitsgruppen“ im Künstlerhaus Stuttgart. Sie reaktiviert das Archivmaterial von 1994, um den Fokus auf die neue Dringlichkeit einer kritischen Selbstbefragung innerhalb der Kunstszene zu setzen. Beim Betrachten des historischen Videomaterials – die gesamte Aufzeichnung von 1994 ist auf wandfüllenden Projektionen zu sehen – drängt sich unweigerlich die Frage auf, welche damals diskutierten Probleme mittlerweile gelöst wurden, ob die Diskutanten in ihren heute vielfach einflussreichen Positionen die Fragen und Probleme auch heute noch im Blick haben. Der neue Leiter und Kurator des Künstlerhaus Stuttgart, Eric Golo Stone, sieht jedenfalls akuten Handlungsbedarf. „Arbeitsgruppen“ ist der Beginn einer zweijährigen Reihe: In neuen, wiederum geschlossenen Arbeitsgruppen, bestehend aus Akteuren der lokalen, regionalen sowie internationalen Kunstszene, sollen in einer institutionellen Fallstudie einzelne Themen wie etwa ein festes Künstlerinnenhonorar, Fragen nach Diversität und Chancengleichheit oder eine faire Bezahlung und sichere Anstellung von Aufbauhelferinnen diskutiert und daraus Strategien und Handlungsanweisungen zur praktischen Umsetzung erarbeitet werden.

Als von Künstler*innen gegründeter Verein ist das Künstlerhaus Stuttgart für eine solche Studie besonders geeignet, da sie Produktion und Präsentation von Kunst, Atelier- und Galerieräume unter einem Dach vereint. Stone möchte hier einen demokratischen Gruppenprozess in Gang bringen und exemplarisch Zeichen setzen. Neue Satzungen, Verträge und Richtlinien sollen erarbeitet werden. Nicht zuletzt geht es auch um eine Stärkung und Anerkennung der immateriellen Arbeit von KünstlerInnen. Die Ausstellung „Arbeitsgruppen“ ist ein Plädoyer für Kooperation und Gemeinschaft. Und sie ist durchaus auch als kritische Revision und Befragung des eigenen Tuns, der sozialen Ordnungen und Interaktionen in einem von starker Konkurrenz geprägten Umfeld zu verstehen, der den eigenen ideologischen Ansprüchen in der praktischen Umsetzung oftmals nicht gerecht wird. Ein wohltuender und hoffentlich weithin rezipierter Weckruf in Zeiten zunehmender Einzelkämpfe.