Deana Lawson: Familienalbum der Diaspora

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10. September 2020
Text: Dietrich Roeschmann

Deana Lawson: Centropy.
Kunsthalle Basel, Steinenberg 7, Basel.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.30 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 11. Oktober 2020.

www.kunsthallebasel.ch

Eine ältere Frau sitzt auf einem roten Sofa vor türkisblauer Wand und hält ihre Enkelin, die neben ihr auf dem Polster steht. Das Mädchen ist etwa fünf Jahre alt, das kleine Gesicht verborgen unter einer Krone und hinter einem Schleier aus goldenen Ketten. „An Ode to Yemaya“ hat die afroamerikanische Fotografin Deana Lawson (*1979) das Porträt genannt, das ihre Soloschau „Centropy“ in der Kunsthalle Basel eröffnet. Das großformatige Porträt könnte eine Momentaufnahme aus dem Hinterzimmer einer Familenfeier sein, veranstaltet zu Ehren der Meeresgöttin der Yoruba, die von ihrer Stammesregion im heutigen Südwesten Nigerias durch die Versklavung und Verschleppung von Millionen von Männern und Frauen aus Afrika den Weg nach Kuba und Brasilien fand und dort in den religiösen Traditionen der Santeria oder des Candomblé fortlebt. Lawson stößt mit diesem Bild die Tür auf zu einer dichten Ausstellung, in der sie Porträtkunst und Dokumentarfotografie eng miteinander verschränkt, überblendet von kunsthistorischen, alltags- und popkulturellen Verweisen, aufgeladen mit einer Privatheit, die sich wie ein schützender Mantel um die Personen auf den Bildern legt statt sie zu entblößen, selbst wenn sie – wie auf vielen Fotos – tatsächlich nackt sind.

Die fünfzehn Porträts sind jeweils in einem schlichten Spiegelrahmen gefasst, der den Ausstellungsraum ebenso wie den eigenen Blick beständig mit ins Bild rückt und so die unausweichliche Rahmung des eigenen Sehens bewusst macht. Sie zeigen Menschen in dezent heruntergekommenen Wohn- und Schlafzimmern in der afrikanischen Diaspora, in den USA, in Südamerika, Jamaika oder der Karibik. Auf einem der Bild posiert eine Schwangere mit ihrem mit Blumengirlanden tätowierten Körper wie Edouard Manets „Olympia“ auf einer diagonal durch den Bildraum schneidenden Treppe. Am linken Knöchel trägt sie eine elektronische Fußfessel zur Aufenthaltsüberwachung. Auch die drei Liegenden, die auf groß geblümtem Teppich dicht aneinander geschmiegt im Spagat den Bildraum der Fotografie „Axis“ rhythmisieren oder eine junge Nackte mit herausforderndem Blick, die auf dem Bett ihres verstorbenen Geliebten kniet („House of My Deceased Lover“, 2019), wirken als würden sie berühmte Gemälde des 19. Jahrhunderts nachstellen. Aber tun sie das wirklich? Indem Lawson hier auf subtile Weise daran erinnert, dass wir dazu neigen, nur das zu erkennen, was wir kennen, lässt sie zugleich erahnen, was unserem Blick entgeht, wenn wir unser Gegenüber nicht wirklich sehen. Empathie sei mehr als Mitgefühl, sagte Deana Lawson kürzlich in einem Interview mit dem afroamerikanischen Künstler Arthur Jafa. Es gehe um den Versuch, das Leid eines anderen Menschen zu verstehen, in dem man sich selbst an dessen Stelle versetze. Als Fotografin übt sie diese Identifikation heute mit jedem Bild neu ein.

Die überblitzten Räume und scheinbar zufälligen Settings verleihen Lawsons Porträts die Anmutung von Schnappschüssen. Doch tatsächlich sind ihre Bilder bis ins kleinste Detail durchkomponiert. Für jede Aufnahme schleppt sie ihre sperrige Großbildkamera in die Wohnungen der Menschen, die sie vorher auf der Straße angesprochen hat, weil sie etwas an ihrem Gang berührte, eine flüchtige Traurigkeit im Gesicht oder eine stille Eleganz. Die Fotografien selbst erzählen vom Alltag dieser Menschen, von ihrer Liebe, ihrer Stärke und ihren Verletzungen, auch vom wachsenden Vertrauen zwischen der Fotografin aus New York und den Fotografierten aus erkennbar armen Vierteln. Vor allem aber erzählen sie von Zugehörigkeit, und zwar in einer Weise, wie Familienfotoalben das tun. Lawsons Porträts bieten den Menschen eine Bühne für ihren Auftritt in der kollektiven Erinnerung, deren Teil sie werden. So wie dieses gemeinschaftliche Gedächtnis in Ritualen und Zeremonien immer wieder neu belebt wird, stattet Lawsons Blick die Porträtierten mit der Aura von Göttinnen, Helden und Heiligen aus, die auf eindringliche Weise die Idee von Familie als komplexe Schicksals- und Solidargemeinschaft und als geteilter Erfahrungsraum repräsentieren. Eine intensive Reflexion über die Vielgestalt von Souveränität und Identität abseits der stereotypen Bilder eines sich als vermeintlich „neutral“ aufspielenden weißen Blicks.