Begegnungen mit einer Visionärin: Emma Kunz

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2. August 2020
Text: Alice Henkes

Zahl, Rhythmus, Wandlung. Emma Kunz und die Gegenwartskunst.
Kunsthalle Ziegelhütte, Ziegeleistr. 14, Appenzell.
Dienstag bis Freitag 10.00 bis 17.00 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 25. Oktober 2020.

www.h-gebertka.ch

Katalog:
Steidl Verlag, Göttingen 2020, 200 S., 35 Euro / ca. 51.90 Franken.

Künstlerische Forschung ist heute ein fester Begriff. In den 1950er und 1960er Jahren, als Emma Kunz ihre geheimnisvoll schönen Zeichnungen schuf, war dieser Begriff allerdings noch unbekannt. Und Kunz selbst sah sich keineswegs als Künstlerin. Sie begriff sich als Forscherin, als Heilerin. Ein Fotoporträt von 1953 bringt das deutlich zum Ausdruck: Da posiert Emma Kunz im strengen, weissen Kittel der Wissenschaft in ihrem Arbeitszimmer, in der Hand ein Lineal, im Hintergrund zahlreiche Zeichnungen.

Die Schönheit der Zeichnungen von Emma Kunz liegt in ihrer Regelmässigkeit. Es sind keine Bilder, die etwas darstellen. Es sind Muster, deren Sinn in ihrer inneren Struktur liegt. Sie basierten auf mathematischen Prinzipien, die Basispunkte pendelte sie aus, der Rest wurde berechnet. Diese Zeichnungen zielten darauf ab, Höheres zu berühren. Nicht im Sinne der Kunst, die dies ja auch tut. Sondern in einem wissenschaftlichen Sinne. Emma Kunz glaubte, mit diesen Zeichnungen heilen zu können. Und viele ihrer Zeitgenossen glaubten das auch.

Emma Kunz hat in ihrem Leben, und darüber hinaus, zahlreiche Wandlungen erlebt. 1892 als Tochter eines Handwerkers im Aargau geboren, wächst sie in ärmlichen Verhältnissen auf. Sie verliebt sich in einen jungen Mann, der nach Amerika auswandert. Sie reist ihm hinterher. Das ist sie gerade mal 19 Jahre alt. Sie ist schwärmerisch, aber auch mutig und entschlossen. Doch mit der Liebe wird es nichts. Sie kehrt in die Heimat zurück. Im Dorf nennt man sie verächtlich „Philadelphia“. Als junge Frau arbeitet Emma Kunz einige Jahre als Haushaltshilfe bei einem Maler. Sie schreibt Gedichte. Sie beschäftigt sich mit mathematisch-naturwissenschaftlichen und esoterischen Schriften. Später wird sie ihre Quellen sorgsam verschleiern und sehr geschickt den Eindruck erwecken, alles Wissen komme nur aus ihr selbst heraus. Sie entdeckt ihre heilerischen Kräfte und im ehemaligen Steinbruch von Würenlos im Aargau das Heilgestein AION A. 1951 zieht sie ins Appenzellerland, wo man eine liberale Haltung gegenüber alternativen Heilerinnen und Heilern pflegt. Dort lebt und praktiziert sie bis zu ihrem Tod 1963.

Ein Jahrzehnt später beginnt die künstlerische Karriere der Emma Kunz: 1973 wurden ihre Zeichnungen erstmals im Aargauer Kunsthaus ausgestellt. Seither wird sie in Kunstkreisen mit wachsendem Interesse betrachtet. Das hätte Kunz selbst sicher überrascht. Denn, als Künstlerin hätte sie sich wohl kaum bezeichnet. Sie war Heilerin und Forscherin.

Die Ausstellung in der Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell trägt diesem Selbstverständnis Rechnung. Die Schau zeigt eine Auswahl von Zeichnungen in Kombination mit Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler. Und gerade in diesen Gegenüberstellungen wird deutlich, wie sehr die Werke von Emma Kunz über „schöne Bilder“ hinausweisen. Da sind zum Beispiel die Pop-up-Objekte der jungen kalifornische Künstlerin Tauba Auerbach (1983). Es sind Objekte aus Karton in starken, leuchtenden Farben, die komplexe geometrische Formen darstellen und die vor allem eines zeigen: Die Schönheit des Regelmässigen. Ähnlich verhält es sich mit den Computerbildern von Patxi Araujo (1967). Er erzeugt durch Datenprozesse eine Art Simulation einer fliessenden Landschaft. Man glaubt Wellenbewegungen zu sehen, Luftwirbel oder vielleicht auch Bergzüge aus grosser Höhe. Zu den beeindruckendsten Arbeiten gehört hier sicher die des Berner Künstlers Georges Steinmann (*1950), der eine Art Forschungsstation eingerichtet hat. Auf einem sehr grossen Tisch versammeln sich Gläser, Näpfe, Fläschchen mit diversen Proben, Stoffen, Tinkturen. Steinmann, der sich seit Jahren mit der Natur und Fragen des Naturschutzes befasst, breitet hier seinen forschenden Geist aus. Und zeigt sich als Künstler, der bewusst an der Grenze zur Naturwissenschaft arbeitet und diese immer wieder mutig überschreitet.