Das Ende der Nahgesellschaft: Die Ausstellung „Critical Zones“ eröffnete im digitalen ZKM

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25. Mai 2020
Text: Dietrich Roeschmann

Critical Zones auf www.zkm.de

Am Sonntagabend warf Dominika Szope einen kurzen Blick auf die Statistik und war begeistert. Rund 20.000 Menschen hätten an diesem Wochenende die Live-Vernissage der Ausstellung „Critical Zones“ im Netz angeklickt, sagte die PR-Chefin des ZKM Karlsruhe am Ende der Youtube-Übertragung. Mehr als 1000 diskutierten da noch in der eigens für diesen Anlass eingerichteten WhatsApp-Gruppe über die Thesen der US-amerikanischen Ökofeministin Donna Haraway, die seit langem über eine Verflüssigung der Grenzen zwischen Mensch und Tier, Mann und Frau, Material und Ereignis nachdenkt und zu den prominentesten Talk-Gästen dieser in Rekordzeit organisierten Veranstaltung gehörte.

Die Mega-Schau „Critical Zones“, die nichts weniger als eine neue Welterzählung für das Post-Anthropozän begründen will, sollte ursprünglich in den realen Räumen des ZKM eröffnen. Doch dann musste das Haus Mitte März schließen, und weil wenig später nicht mal mehr Kunsttransporte aus Übersee ankamen, ruhte bald auch der Ausstellungsaufbau. Der französische Soziologe Bruno Latour, der die Schau kuratiert hat, und ZKM-Direktor Peter Weibel beschlossen deshalb kurzerhand, das physische Ereignis der Eröffnung in den Juli zu verschieben und die Stunde des Lockdowns zu nutzen, um sich mit einer Digitalversion der Ausstellung und einem dreitägigen Streaming-Festival als Kunsthaus am Puls der absoluten Gegenwart zu profilieren.

Für Weibel war diese Entscheidung alles andere als eine Verlegenheitslösung. Bereits Ende März hatte er in seiner Ankündigung von „Critical Zones“ Smartphones und Tablets als die künftigen Orte des Ausstellens beschrieben. Die Möglichkeiten der Online-Kommunikation würden die Anwesenheit von Kunst und Betrachtenden in ein und demselben Raum überflüssig machen und lieferten damit die Voraussetzung für eine radikale Entgrenzung des Formats „Ausstellung“ zu einem „in ständigem Wachstum begriffenen Ereignisfeld“. Mit dem Gebot des Social Distancing, freute sich Weibel, sei nun das „Ende der Nahgesellschaft“ gekommen. „Erstmals in der Menschheitsgeschichte besteht die Chance, sich auf das Konzept der Ferngesellschaft einzustellen“, schrieb er. „Nicht die physische, an einen Ort gebundene Masse, sondern die vielen, an vielen Orten situierten Individuen sind unsere Adressaten“. Das klang visionär.

Der Weg in diese Zukunft führt nun erstmal am eigenen Computer durch eine je nach User-Protokoll ständig mutierende, wuchernde Ausstellung zum Klicken und Scrollen, ausgehend von zunächst einem Dutzend künstlerischen Arbeiten und viel Hintergrundtext mit präzisen bis versponnenen Anregungen, die Welt ohne uns Menschen im Zentrum neu zu denken. Dass sich das trotzdem manchmal wie Büroarbeit anfühlt, mag an der Körperhaltung liegen, in die wir vor dem Rechner unwillkürlich einrasten. Umso neugieriger macht die digitale Schau nun auf die Materialisierungen ihrer teils schwindelerregenden Gedankengebäude in der realen Welt. Dass auch eingefleischte Medientheoriefans dieser analogen Wirklichkeit etwas abgewinnen können, ließen nach der Vernissage die Chateinträge in der WhatsApp-Gruppe erahnen. Eine wünschte sich hier, dass der live per Zoom von zuhause zugeschaltete Bruno Latour den Anwesenden eine kleine Führung durch sein Haus geben möge. So viel Authentizität muss dann doch sein.