Miriam Cahn, Ich als Mensch: Bilder, die unter die Haut gehen

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10. September 2019
Text: Teresa Retzer

Miriam Cahn, Ich als Mensch.
Haus der Kunst, Prinzregentenstr. 1, München.
Montag bis Sonntag 10.00 bis 20.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 22.00 Uhr.
Bis 27. Oktober 2019.

www.hausderkunst.de

In Miriam Cahns Werk gibt es kein Besser oder Schlechter, und auch die Themen ihrer Bilder widersetzen sich konventionellen Bewertungsmaßstäben. Als Kind deutsch-jüdischer Geflüchteter wächst Cahn in Basel auf. Erzählungen und Bilder über Krieg, Genozid, Vertreibung und Flucht begleiten sie seit ihrer frühen Kindheit. Während der Schweizer Frauenbewegung in den 1970er Jahren beteiligte sie sich an aktionistischer Kunst und Performances. Seit ihrer Kindheit zeichnet und malt sie, später produziert sie Skulpturen und Collagen, übermalt Fotografien und macht Filme. Im Haus der Kunst dominieren ungerahmte Leinwände mit Ölmalereien und Zeichnungen auf Papier die fünf Ausstellungsräume, in denen auch einige ihrer Filme und eine skulpturale Installation zu sehen sind.

Viele ihrer neueren Arbeiten beschäftigen sich mit geflüchteten Menschen. Die Künstlerin nennt die planen Figuren, die bis auf die Umrisse ihrer Körper und Gliedmassen ihrer Individualität beraubt worden sind „Primitivlinge“. Rasterförmige Linien ziehen sich durch die öden Horizonte ihrer Ölbilder „schnell nach rechts“ (2005/2017) und „gehen müssen.“ (2017) und zeichnen die unendlich weiten Strecken nach, die Flüchtende zurücklegen. Drei Punkte in ihren Gesichtern signifizieren Mund und Augen, ihre Geschlechtsteile sind deutlicher ausgeprägt. Sie besitzen nichts ausser ihrer nackten und schutzlosen Körper; keine Sprache, mit der sie sich verständigen könnten, keinen Identitätsausweis, der ihnen irgendwelche Rechte gewähren würde. Diese Bilder gehen unter die Haut. Sie sind mehr als politische Kommentare. In Cahns Flüchtlingsbildern wird weder Identitätspolitik betrieben noch das Leid anderer ästhetisiert. Die Künstlerin portraitiert nicht Geflüchtete selbst, sondern den Prozess und das Produkt der Dehumanisierung, die durch die Politik europäischer Regierungen entsteht.

Im Haus der Kunst findet derzeit eine von fünf großen Retrospektiven statt, die renommierte europäische Museen Miriam Cahn zu ihrem 70. Geburtstag gewidmet haben. Das große Interesse an einer Künstlerin, die bislang hauptsächlich in ihrem Heimatland bekannt war, hängt mit ihrer Teilnahme an der documenta(14) 2017 zusammen. In Kassel und Athen wurden großformatige energetische Kohle- und Kreidezeichnungen, Ölbilder und Texte der Künstlerin ausgestellt. Die Arbeit „burkazorn“ (2010) war besonders konfrontativ. Das Ölbild zeigt eine Frau, die bis auf einen zweiteiligen Niqab, einem Gesichtsschleier der einzig einen dünnen Augenschlitz offenlässt, nackt ist. Auch ihr Geschlecht ist bis auf den Schlitz von ihren dunklen Schamhaaren bedeckt, den die Künstlerin mit kräftigen roten Pinselstrichen verunklärt. Während wir auf das entblößte Äußere ihrer Scham blicken und uns fragen, ob sie etwa blutet oder verletzt ist, starrt sie uns zornig aus ihren schönen, schwarz-umrandeten Augen an. „L’origine du monde schaut zurück“ (2017) zeigt ein ähnliches Motiv und doch ist es ganz anders. Das Bild spielt auf Courbets Gemälde „L’origine du monde“ (1866) an, das über mehr als hundert Jahre nur im Privaten und dann meist von Männern betrachtet wurde. In Courbets Version legt sich ein weißes Laken so um den Körper einer Frau, dass der Blick auf ihre Scham und ihre Brust offengelegt wird. Das Bettlaken verwandelt sich in Cahns Version zu einer Burka, aus der zwei Augen hervorblicken. Frauen auf Cahns Bildern tragen Kopftücher. Diese Geste ist weniger als politischer Kommentar denn als Aneignung eines weiteren Tabus zu verstehen. Cahns Frau gibt sich nicht einfach passiv allem hin, was mit ihr geschehen mag, und sie besitzt eine Klitoris. Im Vergleich zu dieser Zurückschauenden scheint Courbet das zentrale Lustzentrum einer Frau ebenso unwichtig gewesen zu sein, wie deren Mündigkeit. Frauen werden bis heute noch immer stark zur Befriedigung der männlichen Sexualität instrumentalisiert, wobei ihre Lust vernachlässigt wird.

„Ich als Mensch“ zeigt den weiblichen Blick der Künstlerin auf die Welt. Eine Frau, die bereits im Alter von 33 Jahren auf der Documenta 7 hätte ausstellen können, hätte sie ihre Vorstellungen für die des Kurators aufgegeben. Miriam Cahn scheiterte nicht daran, Konventionen zu hinterfragen. Sie baute eine Karriere im Vertrauen auf ihre Ideale auf, anstatt sich dem patriarchalen Kunstsystem zu unterwerfen.