Annette Merkenthaler, Stand heute: Topographien des Übergangs

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21. Mai 2019
Text: Dietrich Roeschmann

Annette Merkenthaler: Stand heute.
Kunstraum Alexander Bürkle, Robert-Bunsen-Str. 5, Freiburg.
Dienstag bis Freitag, Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 30. Juni 2019.

Die Mittagssonne zeichnet scharfe Schatten auf den Betonboden im Freiburger Kunstraum Alexander Bürkle. Durch das hohe Fenster geht der Blick in den Hof. Dort, zwischen Containern, Kabelrollen und einem Streifen Gras, warten ein paar LKWs aufs Beladen. „Ich mag diese Ausstellungsräume sehr”, sagt Annette Merkenthaler, „überall öffnen sich Perspektiven in die unterschiedlichsten Zustände von Landschaft und verknüpfen auf interessante Weise den Innen- mit dem Außenraum”. „Stand heute” heißt die Freiburger Retrospektive der 1944 geborenen Künstlerin. Die Vorbereitungen haben mehr als ein Jahr gedauert – weil es ihr nicht darum ging, einfach eine Chronologie ihrer besten und wichtigsten Arbeiten zusammenzustellen, sondern um die Suche nach Korrespondenzen im eigenen Werk. Neben dem Blick in den Hof des benachbarten Elektrogroßhandels Bürkle hängt im ersten Saal des Kunstraumes nun eine großformatige Interieuransicht in Schwarzweiß. Auf der Fotografie wirft die Mittagssonne den Schatten eines Fenstergitters über zwei auf dem Boden stehende Blumenvasen. Das Stillleben aus der Sammlung der Ege Kunststiftung entstand 1994 während eines Stipendiums am Bemis Center for Contemporary Arts in Omaha, Nebraska. Merkenthaler war damals gerade 50 geworden und arbeitete seit gut einem Jahrzehnt nicht mehr als Gebrauchskeramikerin. Stattdessen experimentierte sie mit organischen Materialien, die beim Brennen Hohlräume mit Zeichnungen ihrer Oberflächentextur im Ton hinterließen, entwarf in großen Käfigboxen minimalistische Topografien aus Maiskolben oder realisierte im Außenraum weitläufige Installationen aus Heuballen, Holzscheiten oder ungebranntem Lehm, die langsam aus der Form gerieten. Mit Arbeiten wie diesen, deren Transformation sie mit der Kamera festhielt, erweiterte Merkenthaler ihre plastische Arbeit um die für ihr Werk bis heute zentralen Fragen des Raumes, der Landschaft und der fotografischen Illusion.

Im Kunstraum Alexander Bürkle hat Merkenthaler diese Stränge nun zu einem inspirierenden, so poetischen wie humorvollen Parcours zusammengewunden. Betörend ist da etwa ihre Serie grobschlächtig in Beton verpackter Gemüse von 1999, die sie fotografierte, in ihren Formen verfaulen ließ, ausspülte und nun unter dem Titel „Gemüsesuppe” ganz klassisch auf weißen Sockeln als radikale Verdichtungen der Idee des Gefäßes präsentiert. Im Raum nebenan tritt ein Sammelsurium von frühen Ton- und Betonskulpturen als eine Art Werkgedächtnis in Dialog mit Aufnahmen von Baustellen, geologischen Verwerfungen und der Fotografie eines achtlos in einen Vorgarten gegossenen Betonhaufens, den Merkenthaler 2017 bei einem Arbeitsaufenthalt im kanadischen Montreal entdeckte. „Der hat mich sofort an meine frühen Arbeiten aus den Neunzigern erinnert”, sagt sie schmunzelnd.  Das Grün des Grases, das den Haufen umwuchert, legt eine von mehreren möglichen Spuren durch die folgenden Säle; taucht mal in einer Fotoserie über ein Stück Kunstsstoffrasen zu verschiedenen Jahreszeiten auf. Dann wieder sprießt es aus ein paar Quadratmetern Erde vor dem Maul eines am Boden ruhenden Stieres, der sich als lebensgroße Fotografie erweist. Durch einen der großen Säle hat Merkenthaler einen Bach verlegt. Abgefüllt in 80 recyclebare Eimer, windet er sich als Indoor-Version einer Outdoor-Installation, die sie 2009 im mexikanischen Yucatan realisiert hatte, durch den Saal und kommuniziert dort auf harmonische Weise mit Richard Longs Steinkreis – der einzigen fest installierten Arbeit der Sammlung Ege. 

Der ständige Wechsel zwischen Innen und Außen, Erinnerung und Erwartung, Natürlichkeit und Künstlichkeit, realem und fotografiertem Raum, den Merkenthaler hier choreografiert, erzeugt einen Sog ins Traumhafte und schärft zugleich den Blick für die Vielschichtigkeit dessen, was wir als Landschaft wahrnehmen. Ein gigantisches Modell dafür liefert am Ende des Parcours schließlich eine rampenförmig in den Raum ragende Installation in Hellblau, auf der Merkenthaler großformatige Farbfotografien aus ihrem eigenen, wiederum mit Fotos von Pflanzen, Früchten und Karpfen bestückten Garten verteilt hat. Diese surrealen Bildräume dienen als Bühne für Dutzende von „Anorganischen Gewächsen” aus Keramik, die hier in Form von Muschelohren, Zapfenbüscheln, Riesenlinsen oder Zungenfischen ausschwärmen, um unsere Fantasie zu erobern.