Lorenza Böttner, Requiem für die Norm: Existenzielle Performance

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7. März 2019
Text: Annette Hoffmann

Lorenza Böttner: Requiem für die Norm.
Württembergischer Kunstverein, Schlossplatz 2, Stuttgart.
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 5. Mai 2019.

www.wkv-stuttgart.de

Gibt es auch gut erfundene Träume? In der Dokumentation von Michael Stahlberg erzählt Lorenza Böttner (1959-1994), wie sie von einem Baum fällt, ihr am Rücken Federn sprießen und Flügel wachsen und wie sie diese versteckt, um nicht als Sehenswürdigkeit in einem Käfig ausgestellt zu werden. Während sie diesen Traum erzählt, sieht man, wie ein Mann mit amputierten Armen einen Turm im Schwimmbad besteigt und in elegantem Bogen ins Wasser springt. Kurz danach taucht Lorenza aus dem Wasser auf, das lange Haar klebt am Kopf. In dieser kurzen Filmsequenz, die derzeit in der Ausstellung „Lorenza Böttner. Requiem für die Norm“ im Württembergischen Kunstverein zu sehen ist, geht es um nichts weniger als eine Wiedergeburt aus dem Geist der Selbstbestimmung.

Mit neun Jahren steigt Ernst Lorenz Böttner im chilenischen Punta Arenas einen Strommast hoch, um ein Vogelnest auszurauben. Er wird abrutschen und in die Kabel greifen. Der Unfall wird später für den jungen Mann zu einer Art Selbstermächtigung, die zudem mit einem Geschlechterrollentausch einhergeht. Behindert und transsexuell: Böttner, der Plakate von Freak-Shows sammelte, wusste, wie sehenswürdig er war. Er erweiterte den Käfig, indem er sich ausstellte. Während des Studiums an der Gesamthochschule Kassel von 1978 bis 1984 änderte er seinen Namen in Lorenza Böttner um und schloss dieses mit einer Arbeit „Behindert?!“ ab. Der praktische Teil bestand in der „Transformation von Mann zur Frau mit Hilfe von Schminke“, Böttner nutzte sein Gesicht als Leinwand. Sein Leben inszenierte Böttner zur lebenslangen Kunstperformance.

Einem größeren Publikum wurde das Werk und die Kunstfigur Lorenza auf der documenta 14 bekannt. Paul B. Preciado, spanischer Philosoph und Transgenderaktivist, gehörte 2017 zu ihrem Kuratorenteam und hat auch diese Einzelschau konzipiert. In Kassel wie jetzt auch in Stuttgart war etwa das großformatige Selbstporträt Lorenzas zu sehen, das aus Fußabdrücken besteht und in langen Bahnen von der Decke hängt. Ein bisschen setzt Preciados Engagement für das Werk Böttners dessen obsessive Auseinandersetzung mit dem Selbstporträt fort. Macht man Lorenza Böttner zum Role-Modell einer Transgender-Bewegung, übersieht man ihr – zumindest partielles – Scheitern. Immer dann, wenn es kommerziell wurde und sie eine größere Öffentlichkeit erreichte, musste Böttner ihre komplexe Identität verleugnen. So war sie etwa männlicher Protagonist eines Werbefilms von Faber-Castell, in dem ein Gefangener, der in einer Zwangsjacke steckt, seine Zelle bunt ausmalt, sobald ein Kasten mit Farbstiften zu ihm heruntergelassen wird. Durch das Loch, das die Zeichnung ausgespart, wird er ins Freie springen. 1992, zwei Jahre vor ihrem Tod in München, Lorenza Böttner hatte sich mit HIV infiziert, schlüpft sie in das Kostüm des armlosen Maskottchens „Petra” der paraolympischen Spiele in Barcelona. Kurzer Rock, verschmitztes Lächeln, zwei Zöpfe: mehr Keckheit ging dann nicht. Die Normen, deren Sterben diese Ausstellung im Untertitel „Requiem für die Norm“ konstatiert, waren doch nicht ganz so schnell tot zu kriegen.

Wie Lorenza Böttner selbst so erklärt auch diese Ausstellung alles zur Kunst. Dokumente aus einem der Reha-Zentren – zusammen mit seiner Mutter war Ernst Lorenz Böttner nach dem Unfall nach Deutschland zurückgekehrt – werden zu Zeugnissen staatlicher Repression, die Blicke von Cafébesuchern, die von Böttner aufgefordert werden, Infozettel aus einer Tasche ihres Kleides zu entnehmen, zum Ausdruck einer ignoranten Gesellschaft. Böttners Kunst bewegte sich parallel zu zeitgenössischen Diskursen. So zeigt die Schau neben pornografischen Zeichnungen auch sehr konventionelle Entwürfe für Grußkarten, doch auch die Porträts sind mehr mit sich selbst beschäftigt als mit dem damaligen Kunstkontext. Ein Spiel jedenfalls war diese andauernde Performance nicht, sie war in jedem Moment existenziell.