Hannah Weinberger, When time lies: Klangliches Gedächtnis des Ortes

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5. Februar 2019
Text: Birgit Wiesenhütter

Hannah Weinberger: When Time Lies.
Villa Merkel – Galerien der Stadt Esslingen, Pulverwiesen 25, Esslingen.
Dienstag 11.00 bis 20.00 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 3. März 2019.
www.villa-merkel.de

Ein Miauen aus einem Gullideckel rief 2018 während der Art Basel die Feuerwehrleute auf den Plan. Als sie die vermeintlich in der Kanalisation gefangene Katze retten wollten, fanden diese nur einen Lautsprecher, der Teil einer zum Art Parcours gehörenden Soundinstallation der Künstlerin Hannah Weinberger (*1988) war. Ein Geräusch, ein Ort, eine Assoziation, eine Irritation – das Konzept der Künstlerin war aufgegangen. Stets kreist Hannah Weinbergers künstlerische Praxis darum, mit dem Umfeld in Resonanz zu treten und einen subtilen, aber nachhallenden Bruch mit der vertrauten Wahrnehmung zu erreichen. Bekannt geworden ist die in Basel lebende Künstlerin durch Klang- und Videoinstallationen, bei denen performative, partizipative und kollaborative Elemente eine zentrale Rolle spielen. Ihre Arbeiten sind durch den jeweiligen Ort, für den sie konzipiert sind, und dessen spezifische Atmosphäre motiviert. Und durch die Menschen, die dort potentiell zu erwarten sind.

In ihrer aktuellen Ausstellung „When Time Lies“ in der Villa Merkel in Esslingen geht sie noch einen Schritt weiter. Mutig bespielt sie das komplette Ausstellungshaus mit nur einer einzigen Arbeit gleichen Namens, für die der Soundtrack nicht bereits von der Künstlerin entwickelt wurde, sondern während der gesamten Ausstellungszeit entsteht. Mittels acht Mikrofonen werden in und um die Villa Merkel Geräusche aufgenommen, die im Datenspeicher eines Computers als Files abgelegt werden. Ein Algorithmus bestimmt, wann das einzelne File wieder abgespielt wird und über welchen der 19 im Haus verteilten Lautsprecher es zu hören ist. So entstehen Verschiebungen, Überlagerungen und Irritationen. Denn die Mikrofone zeichnen logischerweise auch wieder die abgespielten Klänge auf und vervielfachen sie damit. Sichtbar sind in der Villa außer den technischen Apparaturen nur meterweise dichte Schallvorhänge und im Haus verteilte Musikinstrumente, die zum Gebrauch einladen.

Zeit „lügt“ im Sinne des Ausstellungstitels hier auf mehreren Ebenen. Ihr Kontinuum ist aufgebrochen. Die Klänge und Geräusche werden losgelöst von der Handlung, durch die sie entstanden sind. Sie erscheinen als klangliches Gedächtnis des Hauses vom Zufall des Algorithmus gesteuert zeitlich verschoben und werden zu Erinnerungen von sozialen Interaktionen und Spuren von Bewegungen. So ist ein Mikrofon auf den Boden gerichtet, um die Schwingungen und Geräusche des Parketts aufzuzeichnen, ein anderes nimmt draußen die vorbeifahrenden Züge auf. Die im technikgläubigen 19. Jahrhundert an die Bahnlinie gebaute Villa wird so Zeuge heutiger technischer Möglichkeiten, durch die der Zugriff auf Informationen und vielfältige Möglichkeiten zur Kommunikation omnipräsent sind. Ort und Zeit spielen keine Rolle mehr. Diese Ebene wird noch erweitert. Während der Öffnungszeiten hören die Aufsichten Radio und nutzen dafür die netzbasierte Open Source radio.garden (www.radio.garden/live), über die weltweit Radiosender zu hören sind. So werden auch sie Teil der Arbeit. Der Globalisierungsaspekt korrespondiert wiederum mit dem Haus, dessen Lage im 19. Jahrhundert auch für Weltoffenheit und Modernität stand.

Die Ausstellungsbesucher finden sich in einer Klanginstallation als einem work in progress wieder, das kontinuierlich wächst, sich verdichtet und verändert. Sie werden zwangsläufig Teil des entstehenden Soundscapes. Gleichzeitig geben sie etwas Preis. Denn die Mikrofone sind nicht offenkundig platziert. Privatsphäre ist dadurch nicht gegeben. Dem kreativen Prozess steht auch der  Aspekt der Überwachung gegenüber. „When Time Lies“ ist eine starke Arbeit, die nicht nur den spezifischen Ort, seine Atmosphäre, seine Geschichte und die Interaktionen seiner Besucher reflektiert, sondern auch die Ambivalenz technischer Möglichkeiten offenkundig macht. Mit „When Time Lies“ erweitert Weinberger ihre Werksprache. War das Immersive, das Eintauchen und Einbeziehen der Besucher ins Werk schon bisher Teil ihrer Arbeiten, so verschmelzen nun Werk und Rezipient zu einer unauflöslichen Einheit.