Imogen Stidworthy: Beredter Sinn

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20. November 2018
Text: Birgit Wiesenhütter

Imogen Stidworthy: Dialogues with People.
Württembergischer Kunstverein, Schlossplatz 2, Stuttgart.
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 13. Januar 2019.

www.wkv-stuttgart.de

Ein dunkler, weiter Raum, Spot on: Licht und Ton geleiten den Besucher von einer Videoinstallation zur nächsten. Der Württembergische Kunstverein erprobt mit der aktuellen Ausstellung „Imogen Stidworthy. Dialogues with people“ neue Formen der Medienpräsentation, „angesiedelt zwischen Ausstellung, Konzert und Filmvorführung“. Die Videoinstallationen der britischen Künstlerin Imogen Stidworthy (*1963) werden nacheinander gezeigt in einer eigens entwickelten, gut 100-minütigen Choreografie. Eine Videoschau, die so ohne aufwendige Ausstellungsarchitektur auskommt, um die Geräuschkulisse in den Griff zu bekommen.

Nach dem Prinzip „Spot on“ funktioniert auch Stidworthys Videoarbeit: „Closing \ Close By“ (2000). Auf zwei Monitoren hört und sieht man die Künstlerin und den Künstler Michael Curren Filmsynopsen vorlesen, jedoch immer nur so lange, wie ein Streichholz brennt und Licht ins Dunkel bringt. Dann bricht die Erzählung ab (closing). Obwohl ganz nah dran und mittendrin in der Handlung (close by), stiften die Textfragmente keinen weiterreichenden Sinn. Vieles, das Stidworthy beschäftigt, ist hier angerissen: Wann stiftet Sprache Sinn, und welchen? Ist die Bedeutung für alle gleich, oder versteht nicht jeder etwas anderes?

Die zehn Videoinstallationen aus zwanzig Jahren, die in Stuttgart zu sehen sind, kreisen um Sprache und Sprechen, um Identität und das Ringen um Verstehen und Verstanden-werden. Die Schau ist Stidworthys erste große Einzelausstellung in Deutschland. In Stuttgart kennt man sie als Stipendiatin auf Schloss Solitude, 2007 hat sie an der documenta 12 teilgenommen. In ihren Arbeiten setzt sich Stidworthy mit Menschen auseinander, die sich in einem Grenzbereich von Sprache bewegen. Sie setzt dort an, wo die Normalität sprachlicher Kommunikation gestört ist. In „The Whisper Heard“ (2003) müht sich der nach einem Schlaganfall an Aphasie leidende Tony O’Donnell sichtbar, Worte zu bilden. Er begreift ihre Bedeutung, kann sie aber kaum artikulieren. In einer separaten Videoprojektion sind seine Hände zu sehen. Deren Gesten zeigen beredt die Bedeutung der Worte schon bevor sie ihm stockend über die Lippen kommen. Dagegen hören wir die dreijährige Severin dieselben Worte problemlos sprechen. Ihren Sinn kann sie jedoch nicht in Gänze begreifen. Was wir mit Worten verknüpfen, basiert auf Lernen und Erfahrung. Somit ist Sprache etwas individuell Gewachsenes und direkt mit unserer Identität verknüpft. „Say … my name … my name“ bekommt durch O’Donnell damit noch eine übergeordnete Bedeutung. Sein Ringen um Sprache ist das Ringen um seine Identität.

Konsequent ist in diesem Zusammenhang Imogen Stidworthys Beschäftigung mit Autisten. Die Spaltung in einen verbalen und non-verbalen Raum kommt in „Iris a [fragment]“ (seit 2018, work in progress) zum Ausdruck. Die Autistin Iris Johansson hatte bis zu ihrem zwölften Lebensjahr kein Ich-Bewusstsein und stellte allein durch Beobachtung und Nachahmung sozialen Verhaltens eine Verbindung zur „normalen Realität” her. Interessant ist die Frage, welche Realität die maßgebliche ist. Für die Frau existieren zwei Realitäten: die non-verbale, in der Geist und Körper voneinander losgelöst sind, und die verbale, in der sie vom Konzept und den Bedeutungsmustern ihrer Umgebung – wie wir alle – bestimmt ist.

Sprache ist eine äußerst komplexe Angelegenheit, das führt uns die Ausstellung vor Augen. Stidworthys Arbeiten erforschen sie, dokumentieren und erzählen, werfen Fragen auf. Ihre collageartigen Installationen überfordern immer wieder unsere Wahrnehmung mit sich überlagernden Film- und Tonspuren. Sie bleiben Bruchstücke, die wir nicht völlig schlüssig zusammenbringen können. Das Fragment ist dabei Konzept und Stilelement. Es ist Imogen Stidworthys eigene Sprache. Selten sehen wir die Gesamtansicht eines Menschen in den Videos, oft seine Lippen. Sie sind Teil des Ganzen, das sich hier nur in Fragmenten erschließt, erforschen und ausdrücken lässt.