Ektase: Auf der Suche nach dem Ausnahmezustand

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19. Oktober 2018
Text: Birgit Wiesenhütter

Ekstase.
Kunstmuseum Stuttgart, Kleiner Schlossplatz 1, Stuttgart.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Freitag 10.00 bis 21.00 Uhr.
Bis 24. Februar 2019.

www.kunstmuseum-stuttgart.de

Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:
Prestel, München 2018, 256 S., 45 Euro / ca. 68.90 Franken.

 

Wer bei dem Titel „Ekstase“ an Liebesrausch und Drogenkonsum denkt, liegt nicht falsch. Doch die Stuttgarter Ausstellung führt weit mehr Bereiche vor Augen, in denen dieses Phänomen Raum findet: Tanz, Sport, Religion sind ebenso thematisiert wie Schamanismus, die brasilianische Candomblé-Religion und griechischer Dionysoskult. Denn nicht weniger als einen Bogen von der Antike bis in die Gegenwart spannt das Kunstmuseum Stuttgart mit über 230 Werken von mehr als 70 Künstlerinnen und Künstlern. Gesucht wird der Ausnahmezustand, die Erweiterung des Bewusstseins, ein überbordendes Glücksgefühl – Trance, Rausch, Ekstase sind da kaum voneinander zu unterscheiden. Künstlerinnen und Künstler haben diesen Zustand immer schon beobachtet, untersucht, selbst erfahren und dargestellt.

Dabei handelt es sich von Anfang an um ein ambivalentes Phänomen, herbeigesehnt und abgelehnt. Schon Sokrates und Platon warnten vor den Gefahren des ausschweifenden Dionysoskultes, – nicht nur für den Menschen, sondern auch für Staat und Gesellschaft. Sie rieten zu maßvollem Genuss. Das festliche Huldigen des Gottes fand Einzug in die Kunstgeschichte als Bacchanal und gab Anlass zu erotischen Frauendarstellungen wie bei Gérard de Lairesses „Schlafende Bacchantin“ (1680/85). Bei Lovis Corinths „Heimkehrende Bacchanten“ (1898) wird das Sujet zur ironisierenden Darstellung der Betrunkenen, die in beinahe lächerlicher Pose daher wanken.

Wie viel Rausch ist erlaubt? Wie die Gesellschaft ekstatische Zustände bewertet, hängt von historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren ab. Ekstase steht für erweitertes Bewusstsein und Glücksgefühl, aber auch für bedrohlichen Kontrollverlust. Larry Clarks Fotoserie „Tulsa“ (1961-71) dokumentiert drogenabhängige Jugendliche. Ihrer Flucht aus dem Leben ins Nirwana steht die brutale Wirklichkeit von Einsamkeit und Absturz auf Clarks Bildern entgegen.

Das Aufsprengen von gesellschaftlichen und körperlichen Grenzen zeigt sich Anfang des 20. Jahrhunderts in einer regelrechten Ekstasenmode. Der Wille, im Einklang mit Natur und Kosmos zu sein, innersten Gefühlen Ausdruck zu verleihen, manifestiert sich besonders im Tanz, der sich von Spitzenschuhen und Tutu befreit hat. Anita Berber, von Otto Dix als Ikone festgehalten, darf hier nicht fehlen.

Der Ausstellung „Ekstase“ gelingt nicht nur ein Einblick in ein universelles menschliches Phänomen, spannend zu sehen sind auch die Überschneidungen und Bezüge innerhalb der Schau: zwischen Musik und Tanz, Lust und Schmerz, Erotik und religiöser Erfahrung. Interessant sind auch die ikonografischen Bezüge. Andy Warhols Videoarbeit „Blow job“ (1964) zeigt das Gesicht eines Mannes beim orgastischen Genießen. Sein Kopf ist in den Nacken gelegt, der Mund halb geöffnet, die Augen geschlossen – der Ausdruck von Lust ist den Bildnissen von Heiligen in höchster Verzückung wie dem von Berninis heiliger Theresa aus dem 17. Jahrhundert so nah. Der „himmelnde Blick“ verbindet die Unio Mystica, die mystische Einswerdung mit Gott, mit der Darstellung von Erotik.

Die Ausstellung „Ekstase“ ist ein Parcours durch die Kunstgeschichte, der keine Langeweile aufkommen lässt, eingerahmt von Möglichkeiten zur Selbsterfahrung. Da wird der Besucher von Carsten Höllers „Lightwall“ mit zwischen sieben und zwölf Hertz blinkenden Lichtern empfangen, die optische und akustische Halluzinationen hervorrufen können. Die oberste Etage ist gänzlich der Klang- und Lichtinstallation „Dreamhouse“ des Komponisten La Monte Young und der Künstlerin Marian Zazeela gewidmet. Schuhe aus und in Licht und Klang getaucht, der vom Komponisten mathematisch berechnet wurde. Für die Ekstase, das wird hier deutlich, muss man bereit sein.