Material Gestures: Die Bedeutung des Haptischen in der Gegenwartskunst

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10. September 2018
Text: Dietrich Roeschmann

Material Gestures.
Galerie für Gegenwartskunst, E-Werk Freiburg, Eschholzstr. 77, Freiburg.
Donnerstag bis Freitag 17.00 bis 20.00 Uhr, Samstag 14.00 bis 20.00 Uhr, Sonntag 15.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 28. Oktober 2018

gegenwartskunst-freiburg.de

Möglicherweise lesen Sie diese Zeilen auf Papier – vielleicht aber auch auf Ihrem Tablet oder Laptop. Die Frage ist: Macht das einen Unterschied? Ja, es macht: Mit der umfassenden Digitalisierung unserer Lebenswelt wird das Begreifen als sinnlich-körperliche Erfahrung zunehmend ersetzt durch virtuell-visuelle Reize. Die Berührung eines Touchscreens stimuliert Rechenleistungen, die Bilder von ganz eigener Wirklichkeit produzieren. Die zeitgenössische Kunst beschäftigt seit geraumer Zeit mit den Bedingungen und Ästhetiken dieser virtuellen Realitäten. Zugleich lässt sich vor allem bei jungen Kunstschaffenden, die mit digitalen Medien aufgewachsen sind, ein starkes Interesse an der Arbeit mit haptisch erfahrbaren Materialien und handwerklichen Herstellungsprozessen beobachten. Wie fruchtbar diese Auseinandersetzung ist, zeigt derzeit die sehenswerte Gruppenschau im Freiburger E-Werk.

Im Zentrum von „Material Gestures” steht die Frage nach der Bedeutung des Materials und seiner physischen Erfahrbarkeit für die Wahrnehmung von Kunst. Eine extrem sinnliche Antwort gibt die in Wien lebende Künstlerin Liesl Raff in der Studio-Galerie im Erdgeschoss. Für ihre Installation „Hanging” hat sie hier Dutzende von handgegossenen Latexseilen über eine Metallstange gehängt, die den Raum in Schulterhöhe teilt. Wer auf die andere Seite gelangen will, darf durch den weichen Vorhang aus geronnenem Naturkautschuk schlüpfen, in dem kein Seil dem anderen gleicht. Individuell eingefärbt und mit geruchsintensivem Silikonöl geschmeidig gemacht, entfalten die einzelnen Stränge hier eine geradezu verstörende Körperlichkeit. Für andere Arbeiten lässt Raff das Latex wie in Streifen geschnittenes Wallfett oder obskure Gelee-Süßigkeiten aus Metallprofilen an der Wand wuchern. Es kostet einige Überwindung, nicht auch hier alles anzufassen – ein Impuls, dem William Cobbing mit seiner sinnlichen Animation von Rodins „Kuss” im Untergeschoss eine wunderbar absurde Videoarbeit widmet: Zwei Menschen, deren Köpfe aus matschigen, durch rüsselartige Lippen verbundene Tonklumpen bestehen, kneten und kosen hier ohne Ziel, aber mit enormer Lust an ihren feuchten Hüllen herum.

Weniger um die Gestaltungskraft der Hand als um die Eigenproduktivität des Materials geht es der Bildhauerin Carla Lavin. In der Pfeilerhalle des E-Werks hat die Britin in den vergangenen Wochen eine raumgreifende Installation mit mehreren gefäßartigen Objekten aus ungebrannter Tonerde arrangiert. Aufgrund der Schwere des Materials sind die Formen teils in sich zusammengesunken wie welkende Blüten, andere zeigen erste Risse, Fragmente liegen auf dem Boden und zerfallen unter den Füßen der Besucher zu Staub. Über dieser Trümmerlandschaft in Auflösung flackern auf diversen Bildschirmen HD-Videos, die in sanften Überblendungen von der Gewinnung der Tonerde und ihrer Verarbeitung in der Keramik erzählen und so eine Brücke zwischen einer der ältesten Kulturtechniken der Menschheit und ihren avancierten Technologien der Gegenwart schlagen.

Der Bildhauer Stephan Hasslinger, dessen Arbeiten bis Sonntag auch in einer konzentrierten Werkschau im Freiburger Morat-Institut zu sehen sind, reagiert auf Lavins rudimentäres Setting mit sechs Keramiken, die der Erdenschwere des Tons eine atemberaubende Leichtigkeit abtrotzen, ohne dabei die Eigentätigkeit ihres Materials zu leugnen. Die ausgeklügelten Tragekonstruktionen der filigranen, wie aus Netzen geflochteten Keramikobjekte erzählen davon ebenso beredt wie die im kollabierten Zustand gebrannte Arbeit „Stretch”. Den Gesetzen der Schwerkraft scheinbar völlig entrückt balanciert daneben seine jüngste, zentnerschwere Arbeit „Hamam” wie die Maske eines Geistes.