Organisches in Polyester: Alina Szapocznikow in Baden-Baden

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18. August 2018
Text: Carmela Thiele

Alina Szapocznikow: Menschliche Landschaften.
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Lichtenthaler Allee 8, Baden-Baden.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 7. Oktober 2018.

kunsthalle-baden-baden.de

In Polen gilt sie als wichtigste Bildhauerin des 20. Jahrhunderts. Und sie ist mehr als das: Sie ist das europäische Pendent zu Eva Hesse, der New Yorker Pionierin des Postminimalismus, die wie Alina Szapocznikow mit Kunststoff und organischen Formen experimentierte. Zugleich ist sie eine Künstlerin, die ein Werk schuf, das im besten Sinne feministisch ist, ohne sich programmatisch in diesem Kontext zu exponieren. Alina Szapocznikow repräsentierte 1962 auf der Biennale von Venedig ihr Geburtsland Polen, auf der Documenta 14 wurden einige ihrer Polyesterarbeiten in Kassel gezeigt. Solche gelegentliche Präsentationen konnten ihr Werk in Deutschland jedoch nicht bekannt machen. Insofern ist die Retrospektive „Menschliche Landschaften“, die das Hepworth Wakefield in Yorkshire gemeinsam mit der Kunsthalle Baden-Baden zusammengestellt hat, nicht genug zu loben. Über 100 Objekte, Zeichnungen und Fotografien vergegenwärtigen das Schaffen einer Künstlerin, deren Sensibilität und Unabhängigkeit erstaunt und zugleich beschämt. Denn ihre, wie sie es selbst ausdrückte, „unbeholfenen Objekte“, erinnern an eine Dimension des Lebens, die in der auf Effizienz getrimmten Gegenwart des 21. Jahrhunderts keinen Platz haben.

Ihre fragilen Polyesterarbeiten stehen aber nicht nur für in Worten nicht auszudrückende Empfindungen der Freude, der Lust oder des Schmerzes. Ihre Ironie, ihr Fatalismus und ihre Immunität gegenüber vordergründiger Schönheit erinnern an die tiefere, vielleicht eigentliche Bedeutung der Wendung „künstlerische Unabhängigkeit“. Sowohl in Kassel wie in Baden-Baden ist etwa ihr „Cendrier de Célibataire“ ausgestellt, der im letzten Jahr vor ihrem Tod 1973 entstanden ist. Der „Aschenbecher eines Junggesellen“ hätte eine witzige Pop Art-Ikone sein können, wenn Alina Szapocznikow das Motiv in knalligem Realismus produziert hätte. Doch handelt es sich um einen über dem Mund abgeschnittenen Abguss ihres eigenen Halses und Kopfes und um echte Zigarettenstummel, die mit einer Ascheschicht in der Polyesterharz-Plastik konserviert sind.

Im Zentrum ihres Schaffens steht der Körper, der eigene Körper als Speicher von einzigartigen Erfahrungen, und auch als Projektionsfläche traumatischer Erlebnisse. Alina Szapocznikow wurde 1926 in Kalisz geboren, ihre Eltern, assimilierte Juden, waren beide Ärzte. Gemeinsam mit ihrer Mutter überlebte sie Ghetto, Zwangsarbeit und Vernichtungslager. Nach der Befreiung studierte sie in Prag an der Hochschule für Kunstgewerbe und begeisterte sich für den Kommunismus. Ein Stipendium brachte sie 1947 nach Paris, ihre spätere Wahlheimat. Beeinflusst vom Existenzialismus weichen ihre in Ton modellierten Figuren zunehmend vom Ideal ab, werden abstrakt und fragmentarisch. In den 1960er Jahren kommt Kunststoff als künstlerisches Material auf. Seine porösen oder durchscheinenden Oberflächen, seine organische Anmutung kommt ihren Ideen entgegen. Es entstehen „illuminierte Skulpturen“ wie „Lampe-Bouche“, eine Lampe in Form eines weiblichen Mundes. Damals begann sie in ihrem Atelier in Malakoff auch mit Abformungen ihres Leibes, später auch des Körpers ihres Adoptivsohns Piotr. Alles in ihrem Werk ist Leib, Körper, ihr Körper.

In Baden-Baden kann die Retrospektive auf Grund einer Dachrenovierung nur im großen Saal und einem Nebenraum gezeigt werden. Die komprimierte Präsentation hat Vor- und Nachteile. Manchen der im Geist der Moderne geformten Werke fehlt es deutlich an Raum zum Atmen, so dass Szapocznikows Frühwerk zum reinen Vorspiel verblasst. Ihr Spätwerk hingegen erfährt durch die intime Nähe eine besondere Eindringlichkeit. Als die Künstlerin 1969 von ihrer Krebserkrankung erfährt, geht sie mit noch größerer Intensität dessen sinnlicher Präparierung nach, dringt vor zu Gestaltungen, die Inneres nach außen kehren, surreal wuchernde Formen aus Polyesterharz real erscheinen lassen. In einer ihrer letzten großen Werkgruppen verarbeitet sie Abformungen zu Reliefs: aus Körpern werden Hüllen, in die Strukturen vergangenen Leben eingeschrieben sind. Alina Szapocznikow nannte sie „Herbarium“, entsprechend einer Sammlung getrockneter Pflanzen.