Su-Mei Tse: Der Klang in der Natur der Dinge

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18. Juni 2018
Text: Isabel Zürcher

Su-Mei Tse: Nested.
Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz, Aarau.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 12. August 2018.

www.aargauerkunsthaus.ch

Unglaublich still bleibt der Plattenspieler. Der Tonträger dreht ohne Sound. Auf seiner ebenmässigen Umlaufbahn transportiert die schwarze Platte weisse Kügelchen. Das sieht aus, als läge der Ursprung aller Musik in der Bewegung von Planeten. Doch könnte er nicht auch näher sein, vielleicht im Wald? – Eine Kamerafahrt entlang lichter Baumkronen erkennt in der Folge von Misteln eine Partitur. Die 44-jährige Su-Mei Tse macht im Raum Intervalle aus, wie sie Dimitri Schostakowitsch dem Cello zuschrieb: Sein Konzert unterlegt in der Video-Installation „Mistelpartitur“ (2006) die Mistel-Silhouetten, als möchten Komponist und Interpreten die Natur selbst zum Sprechen bringen.

Mit treffsicherer Intuition nähert sich Su-Mei Tse einer universellen Sprache. Sie isoliert Bilder, Gesten und Materialien aus ihren angestammten Zusammenhängen, und sie übt nicht zuletzt die Weglassung. Man müsse nicht alles zeigen. Vielmehr gehe es darum, die Balance zu finden zwischen Zeigen und Zurückhaltung. „Einen Teil für mich zu behalten, macht es dann möglich, für den Betrachter seins dazuzutun“, sagt die Künstlerin. Su-Mei Tses sparsame, präzise Choreografie gibt nicht selten Anlass zum Staunen – und löst Assoziationen aus. „Nested“ (2017) heissen die Plastiken, die der Ausstellung den Titel geben. Ausgewaschene, amorphe Sandsteine sind Träger für Kugeln aus geschliffenem Mineral – ein Akt des Gleichgewichts zwischen natürlicher Erosion und kultureller Raffinesse. In einer Videoinstallation lässt die Hand einer Jongleurin eine Glaskugel schweben vor Kunstdenkmälern in Rom. Das ist von zauberhafter Eleganz – und ein Angebot, durch die Linse der Kunst ein Stück Vergangenheit in Erinnerung zu rufen.

Gross und selbstverständlich scheint der Lauf der Dinge, der sich niederlässt in den Bildern und Objekten von Su-Mei Tse. Als Tochter eines chinesischen Cellisten und einer britischen Pianistin ist die Künstlerin zwischen mehreren Kulturen gross geworden. Heute in Luxemburg und Berlin beheimatet, wählt sie wohl nicht zufällig eine Kunst, die – fast ohne Worte – Brücken schlägt zwischen der westlichen Tradition plastischer Kunst und einer kontemplativen Verinnerlichung des Ostens. Die dichte Rückschau auf mehrere Schaffensjahre, die Su-Mei Tse jüngst auch nach Italien und nach Japan führten, braucht in Aarau ebenso wenig Übersetzung wie in Venedig, Paris, Chicago oder Taipei. Sind unterschiedliche Mentalitätsräume allenfalls ihr Antrieb, mit Brüchen und Widersprüchen versöhnlich umzugehen? „Es geht mir weniger um Versöhnung“, meinte die Künstlerin am Rand der Medienkonferenz. „Es gibt viele Leute, die sprechen von der Identität und von der Suche nach Identität. Dieses Bedürfnis habe ich nicht. Ich finde es im Gegenteil spannend, durch verschiedene Blickwinkel Sachen anders zu erfahren.“

Es sind Motive der Dauer, die Su-Mei Tses Ausstellung als einen geradezu meditativen Parcours erleben lassen. Wenn mächtige Steine unterschiedlicher Form und Maserung auf ihren Sockeln ruhen, thematisieren sie die Dimension von Zeit. Der unermessliche, geologische Werdegang jedes Findlings kommt zum Stillstand und macht die Kürze unserer Aufmerksamkeit spürbar. Mehr als der sich zuspitzenden Erzählung liegt Su-Mei Tse an einem Nachdenken über Zustände, über den Klang von Bildern, über das Hier und Jetzt. Man ahnt: Jede Musik wird zu ihrem Anfang zurückkehren. Das ist perfekt gemacht. Das ist von hoher Künstlichkeit und voll von Referenzen an Kunst und Kulturgeschichte. Vor allem aber pflegt es die Stille im eigenen Kopf. „Die Stille ist da“, meint Su-Mei Tse, „sie ist nur oft – auf Französisch würde man sagen ‚brouillé’, verstört, oder sogar vernebelt. Im Stillen zu sitzen und den Gedankenfluss, der sehr laut sein kann, zu stoppen versuchen, sind Sachen, die mir wichtig sind“.