Die andere Seite – Erzählungen des Unbewussten: Ausflug in die Zwischenwelt

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7. Juni 2017
Text: Christian Hillengaß

Die andere Seite – Erzählungen des Unbewussten.
Wilhelm-Hack-Museum, Berliner Str. 23, Ludwigshafen.
Dienstag, Mittwoch und Freitag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.00 Uhr, Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 13. August 2017.
www.wilhelmhack.museum.de

Wer sich an einem heißen Tag zwischen Mai und August durch einen Besuch im Ludwigshafener Wilhelm-Hack-Museum der Hitze entziehen will, sollte darauf gefasst sein, dort auf Dinge zu stoßen, die ähnlich entrücken könnten wie eine zu lange Wanderung unter der stechenden Mittagssonne. Ein verhüllter Reiter galoppiert auf einem halbskelettierten Gaul durch die Luft, eine nackte Frau tastet sich vorsichtig ins Wasser, ohne etwas von den drei überdimensionalen, molchigen Wesen im Hintergrund zu bemerken. Eine andere Nackte steht mit verhülltem Kopf auf einem Plateau vor einem Abgrund und hegt mit einem Rechen eine Herde von Menschlein, die sie aufgrund ihrer Blindheit wohl in den Abgrund stoßen wird. Ein riesiger Totenmann macht sich an eingeschneiten Häusern zu schaffen, eine Uhr tickt mit Schwert-Zeigern und köpft die Häupter, die anstelle der Ziffern dort hängen. 

Es sind die symbolistisch-traumverfangenen Bildwelten des österreichischen Grafikers Alfred Kubin, aus denen hier allerhand Verwirrendes, Zwielichtiges und Phantastisches springt. Bilder aus einem Zwischenreich von Schlaf und Wachen, aus der Dämmerung, aus dem Unbewussten gefischt und zu Papier gebracht. Auf diese Weise entstand auch Kubins Roman „Die andere Seite“, den er nach einer Schaffenskrise in einem rauschhaften Rutsch binnen zwölf Wochen niederschrieb. Gleich einer Keimzelle der in Ludwigshafen ausgestellten Phantastik liegt die wunderschön gebundene Erstausgabe von 1909 in einer Vitrine. An den Wänden ringsum Lichtdrucke auf Büttenpapier aus Kubins „Weber Mappe“ und zwölf Originallithographien des Zyklus „Traumland“. Genauso schattenhaft: zehn Strichätzungen auf Papier, mit denen Kubin seinen Roman illustriert hat. Sein Protagonist gerät in ein Reich, in dem es keine Regeln und Grenzen gibt. Eine Welt, in der zwar alles möglich ist, aber nie die Sonne scheint. Letztendlich löst sie sich in einer Katastrophe auf.

Kubin bildet in Ludwigshafen den Auftakt und Referenzrahmen für eine Zusammenstellung verschiedener zeitgenössischer Künstler, die ebenso in Zwischenreiche vordringen und Traumwirklichkeiten erschaffen. Von irgendwoher prasselt Regen, als hätte sich die gespenstig-gewittrige Atmosphäre von Kubins Bildern endlich entladen. Aber der Ort des Regens ist nicht weniger obskur. Stéphane Thidet hat eine Waldhütte gebaut, deren Tür und Fenster offen stehen, so dass die Blicke ins Innere dringen können, das scheinbar bis vor kurzem noch belebt war. Von der Decke der Hütte fällt Dauerregen, perlt von der brennenden Zimmerlampe und durchweicht das aufgeschlagene Buch auf dem Tisch. Der Geruch von nassem Holz und Regenspritzer schlagen den Besuchern ganz real entgegen und scheinen doch aus einer Zauberwelt.

Ein ähnlich magisches, ja beinahe psychedelisches Erlebnis stellt sich bei Thomas Feuersteins Arbeit „Sternenrotz“ ein, bei der phosphoreszierender Schleim mit einer ganz eigenen Geschichte von einer Glasskulptur tropft. Bei Henrique Oliveira quellen organische Holzwülste aus einer alten Standuhr und anderen Möbeln. Nicht weit davon entfernt schwebt ein übergroßes Brautkleid. Die japanische Künstlerin Chiharu Shiota hat es eindrucksvoll in einen Kubus aus schwarzen Wollfäden eingesponnen. Markus Schinwalds grafische Arbeiten könnten echte Biedermeierportraits sein, hätten sich nicht die Kleidungsstücke der Portraitierten wie pilzartige Wucherungen über deren Gesichter gelegt. Daniel Roth beeindruckt mit Objekten, die, über ihre Qualität als bloße Skulpturen hinaus, von Sagenhaftem raunen. Als ein Höhepunkt könnte Hans Op de Beecks Arbeit „Night Time“ gelten. Er hat schwarzweiße Aquarelle dezent animiert und lässt sie zu sanfter Musik auf einer Kinoleinwand leuchten. Der atmosphärische Aspekt der Schau wird hier am deutlichsten. Aber auch die anderen Werken weisen trotz ihrer oft verstörenden Eindrücklichkeit Poesie auf. So ist „Die andere Seite“ keine effektheischende Geisterbahn, sondern ein fein kuratiertes Märchen, das einlädt, sich in die Realitätsferne zu begeben und das Unbewusste zu erkunden.