Die Revolution ist tot. Lang lebe die Revolution!: Wahrheit statt Wirklichkeit

Interview
2. Mai 2017
Text: Dietrich Roeschmann

Die Revolution ist tot! Lang lebe die Revolution!
Kunstmuseum Bern, Hodlerstr. 12, Bern.
Dienstag 10.00 bis 21.00 Uhr, Mittwoch bis Sonntag: 10.00 bis 17.00 Uhr.
Zentrum Paul Klee, Fruchtland 3, Bern.
Dienstag bis Sonntag: 10.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 9. Juli 2017.
www.lang-lebe-die-revolution.ch

Artline: Vor 100 Jahren stürmten die Bolschewiken den Winterpalast des Zaren in St. Petersburg. Kurz zuvor hatte Kasimir Malewitsch das „Schwarze Quadrat” gemalt. Die Ausstellung „Die Revolution ist tot! Lange lebe die Revolution”, die Sie zusammen mit Michael Baumgartner und Fabienne Eggelhöfer im Kunstmuseum Bern und im Zentrum Paul Klee kuratiert haben, stellt erstmals die Wechselbeziehung zwischen diesen beiden Ereignissen her. Warum?
Kathleen Bühler: Es gab einen komplexen Zusammenhang zwischen der Erfindung der Abstraktion und den gesellschaftlichen Umwälzungen im Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Beide begannen lange vor 1917. Die Kunstschaffenden griffen hier etwas auf und visualisierten, was in der Luft lag, sich aber erst im Rückblick als bedeutsam erwies. Heute kann man sagen: Die ästhetische Revolution und die gesellschaftliche Revolution kamen sich nie mehr so nahe wie vor 100 Jahren in der jungen Sowjetunion. Uns interessierte dieser utopische Moment – und seine radikale Ernüchterung binnen weniger Jahre.

Artline: Inwiefern?
Bühler: Wir fragten uns: Wie konnte es sein, dass da um 1917 ästhetisch eine Revolution stattfand, die bis heute in unserem Kunstverständnis nachwirkt, dass bei der Umsetzung der Revolution in gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Hinsicht aber eine Kunst in Dienst genommen wurde, die so offensichtlich einen Rückschritt darstellte. In den beiden Teilen der Ausstellung in Bern wollen wir nun beide Seiten in den Blick nehmen – die Avantgarde und den Sozialistischen Realismus, den Stalin der Kunst 1934 gewissermaßen per Dekret als verbindliche Bildsprache verordnet hatte. 

Artline: Wie wirksam war dieses Diktat?
Bühler: Sehr wirksam – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Von heute aus ist es spannend zu sehen, welche Vorstellung von Realismus damals prägend wurde – da ging es eben nicht um Wirklichkeit, sondern um Wahrheit, die von oben verordnet wurde –, und zugleich zu beobachten, welche Wege Kunstschaffende fanden, diese Auflagen zu umgehen. Schon in den 1930er-Jahren entstand in der Sowjetunion so eine Kunst voller Subtexte, die ein Bewusstsein davon hatte, dass Kunst als symbolische Kommunikation nie völlig kontrollierbar war. Zugleich wurden die entgegengesetzten Bewegungen der Abstraktion und des Realismus während des Kalten Krieges prägend für das Kunstverständnis in Ost und West. Auch das wollen wir mit der Ausstellung in den Blick nehmen – und dabei fragen: Was wäre revolutionäre Kunst heute?