Sigmar Polke, Alchemie und Arabeske: In der Abschweifungsschleife

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21. März 2017
Text: Annette Hoffmann

Sigmar Polke: Alchemie und Arabeske.
Museum Frieder Burda, Lichtentaler Allee 8b, Baden-Baden.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 21. Mai 2017.
www.museum-frieder-burda.de
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:Schirmer/Mosel, München 2017, 200 S., 46 Euro | ca. 47.90 Franken.

Sterne-Leser kennen solche Schlaufen. In „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ stellt der Autor den voraussichtlichen Gang der Ereignisse mit mehreren kühnen Linien vor. Der Erzählfaden steigt Hügel empor, fällt in Täler und Senken hinab und bildet Blasen und kleine Girlanden. Mitte des 18. Jahrhunderts veranschaulichte Laurence Sterne allein mit einer verschnörkelten Linie eine Ästhetik der Abschweifung, unterbrach dafür den Fluss der Erzählung und löste sie gleich im Roman ein.

Sigmar Polkes 1986 entstandene „Dürerschleifen“ erinnern einen daran. Zwischen 1520 und 1522 schuf Albrecht Dürer den Holzschnitt „Der große Triumphwagen“. Über den Pferdepaaren, die den Prunkwagen ziehen, und die jeweils eine Seite einnehmen, steht eine kurze Abhandlung über die verschiedenen Tugenden. Zwischen den Pferden und dem Text hat Dürer seltsame Kringel gesetzt, die weder mit der abgebildeten Szene noch mit dem Text semantisch in Verbindung gebracht werden können. Hier scheint ein Künstler ganz seinem Spieltrieb gefolgt zu sein. Gut möglich, dass Dürer in Venedig Arabesken sah, die dann im ausgehenden 18. Jahrhundert als Sinnbild einer antiklassizistischen Ästhetik wiederentdeckt wurden. Sigmar Polkes „Dürerschleifen“, die im Museum Frieder Burda in der Ausstellung „Alchemie und Arabeske“ gleich im ersten Raum hängen, sind groß in Szene gesetzt. Sie haben sich ganz aus ihrem Kontext gelöst, der Hintergrund ist fleckig und voller Schlieren. Setzt man den Rundgang fort, entdeckt man im oberen Stockwerk überarbeitete Fotos von Weinranken, die ebenfalls 1986 entstanden sind. Polke (1941-2010) hat sie so vergrößert, dass sie das gesamte Bildformat einnehmen und nichts mehr an die Pflanze erinnert. Eine Ästhetik der Stringenz und der Eindeutigkeit schien für Polke anscheinend nicht der natürliche Weg zu sein.

Der Titel der Baden-Badener Ausstellung „Alchemie und Arabeske“, die von Helmut Friedel kuratiert wurde, ist also durchaus mit Bedacht gewählt. Die große und meist humorvolle Experimentierlust Polkes machte vor dem Materiellen der Kunst keinen Halt. Er setzte industrielle Stoffe wie Polyestergewebe ein, verwendete Kunstharz, Lacke oder traditionelle Farben, deren Gesundheitsschädlichkeit auch Polke bekannt war. Er fotografierte radioaktives Uran und sammelte Uranglas, das in Baden-Baden in einem Kabinett effektvoll mit Schwarzlicht beleuchtet ist. Kunst hatte bei Polke, der an der Düsseldorfer Kunstakademie studiert hatte, durchaus etwas mit Risiko zu tun. Polke dramatisierte diese potentielle Gefährlichkeit seiner Kunst nicht, er nahm sie mit Humor.

Die Einzelschau im Museum Frieder Burda – es ist bereits die zweite dort nach der Retrospektive vor zehn Jahren – zeigt mit „Moderne Kunst“, „Höhere Wesen befahlen: rechte obere Ecke schwarz malen“ und Fotoarbeiten zu seinem Documenta-Auftritt 1986 bekannte Werke und nebenbei eine große Anzahl von Fotos und Skizzenbüchern; sie zeigt aber auch das Kartoffelig-Knubbelige seines Humors. Nicht nur sind unzählige Zeichnungen und Gouachen von „Kartoffelköpfen“, „-köppen“ und „-gesichtern“ aus den 1960er Jahren zu sehen, die sich irgendwo zwischen Karikatur und Comic befinden, sondern auch der „Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann (Kartoffelmaschine)“ aus dem Jahr 1969. Die „Kartoffelmaschine – ihr hoher Schemel persifliert einen Sockel – wird prominent im ersten Saal präsentiert. Würde man den Knopf auf dem Kästchen drücken, dann rotierte die mit dem Draht befestigte Kartoffel um die auf dem Boden liegende zweite Kartoffel. Ein schönes Sinnbild für die Kunst und ja, auch Kartoffeln können Arabesken.