Erin Shirreff, Halves and Wholes: der Bedeutungsraum dazwischen

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23. September 2016
Text: Dietrich Roeschmann

Erin Shirreff, Halves and Wholes.
Kunsthalle Basel, Steinenberg 7, Basel.
Dienstag bis Freitag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 20.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 6. November 2016.
www.kunsthallebasel.ch

Wie sehr wir uns auch bemühen, nie können wir die Dinge mit einem Blick erfassen. Immer gibt es noch eine Rückseite oder ein Inneres, etwas, das sich entzieht, oder eine Pointe, die nicht sofort zündet. Für  Erin Shirreff (*1975) ist dieses Unvermögen, ohne das es keine Fantasie und keine Kreativität gäbe, Voraussetzung ihrer künstlerischen Arbeit. Was die Kanadierin interessiert, ist die Zeit als Grundbedingung von Wahrnehmung, und die Frage, was genau da mit uns passiert, wenn wir etwas betrachten. In ihrer entschieden entschleunigten Soloschau „Halves and Wholes” in der Kunsthalle Basel nähert sich Shirreff diesem Thema von drei Seiten, für die sie je einen Komplizen aus dem Kanon der jüngeren Kunstgeschichte herbeizitiert. Da ist zum einen der US-Bildhauer Tony Smith (1912-1980), dessen Skulptur „Amaryllis” von 1965 im Zentrum eines 16-mm-Films steht, der im letzten Raum flackert: Langsam löst sich die markante Form aus dem grobkörnigen Dunkel, kenntlich gemacht durch weißes Styropormehl, das wie Schnee durch das Bild rieselt. Was zunächst wirkt, wie ein unscharfes Überwachungsvideo aus dem nächtlichen Skulpturenpark, erweist sich bald als Fake. Shirreff hat Smiths Skulptur als Minimodell aus Pappe nachgebaut und abgefilmt. Was sie auf diese Weise in den Blick rückt, ist die Lücke zwischen der realen, physischen Erfahrung einer Skulptur und ihrer als Bild in den Medien kursierenden Version. Auch die Schwarz-Weiß-Fotografien der Serie „Still” widmen sich dem Bedeutungsraum, der sich zwischen Objekt und Abbild auftut. Es sind Assemblagen einfacher Formen wie Kegel, Kugel oder Zapfen, modelliert aus mit Graphit eingefärbtem Gips, die Shirreff für die Kamera arrangiert hat. In ihrer Askese und ihrem Hang zur Wiederholung erinnern diese Fotografien an Stillleben Giorgio Morandis (1890-1964), deren reflektierte Einfachheit sie nun zurückspiegeln. Tatsächlich entstehen Shirreffs Objekte nämlich allein, um fotografiert zu werden, sind also nichts anderes als Material zur Erkundung der Funktion und des Eigenlebens von Abbildern. Die dritte Referenzfigur dieser Schau schließlich ist der großartige Pedant und Nörgler Donald Judd (1928-1994), dem nie etwas recht war, wenn es um die Rezeption seiner Arbeiten ging. Oft genug beschwerte er sich, dass sich die Menschen für seine Skulpturen nie so viel Zeit nähmen wie für ein Musikstück. Nicht so Shirreff. Knapp 75 Minuten ruht der Blick ihrer Kamera in der Doppelprojektion „Concrete Buildings” auf zwei Betonhallen in Marfa, Texas, wohin sich Judd zurückgezogen hatte, um an seinem persönlichen Utopia in Sachen Ausstellungspraxis zu bauen. Seit  ihm 1985 das Geld ausging, verfallen die Idealbauten zwischen Stachelpalmen und garstigen Gräsern – und wir sitzen dazwischen und beginnen uns selbst dabei zu beobachten, wie wir sehen und langsam aus der Zeit rutschen.