The Dark Side of the Moon: Die schwarze Kunst

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17. August 2016
Text: Yvonne Ziegler

The Dark Side of the Moon.
Kunstmuseum St. Gallen, Museumstr. 32, St. Gallen.
www.kunstmuseumsg.ch
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 23. Oktober 2016.

Ausgehend von Max Horkheimers und Theodor W. Adornos „Dialektik der Aufklärung“ lenkte der Kustos der grafischen Sammlung des Louvres Régis Michel 2001 den Blick auf Kunst, die das immer wiederkehrende Abgründige, Verdrängte, Irrationale, Traumhafte, Wahnsinnige und Gewaltvolle menschlicher Existenz darstellt. Seine Ausstellung „Malerei als Verbrechen“ umfasste Filme, Grafiken, Fotografien und Malerei aus den letzten drei Jahrhunderten. Es waren Darstellungen von Shakespeare-Figuren von George Romney, alptraumhafte Gestalten von Johann Heinrich Füssli, Jackson Pollocks „Dripping-Arena“, Odilon Redons grinsende schwarze Spinnen und Günter Brus‘ Selbstverstümmelungsaktionen zu sehen. Unter dem Titel „The Dark Side of the Moon“ zeigt nun Konrad Bitterli im Kunstmuseum St. Gallen Werke, die diesen Aspekt weiterführen, ohne sich ausdrücklich auf die Ausstellung des Louvres zu beziehen. Dass das Abgründige und Verdrängte ein wiederkehrendes wichtiges Thema der Kunst ist, wird anhand neuerer Positionen sowie einem Rückgriff auf Grafiken von Albrecht Dürer und Jacques Callot anschaulich. Den Titel erhält die Ausstellung durch den Pink Floyd-Song „Brain Damage“ von 1973.

Empfangen wird der Besucher von fragilen Gipsfiguren Martin Dislers (1949-1996), die das Entree förmlich überwuchern, sodass man sich durch ein eingefrorenes Geisterkabinett hindurchschlängeln muss. Man spürt die gestaltende Hand des Künstlers, der Gesichter und Gliedmaßen nur andeutete, Holz- und Plastikobjekte, die nicht zusammenpassen, kreuzte und die Figuren mit Gipsmasse und Mullwickeln nur notdürftig stabilisierte. Im angrenzenden Saal visualisieren fünf abgefahrene Autoreifen von Thom Merrick (*1963), an denen sich jeweils ein gelborange flackerndes elektrisches Licht in Flammenform befindet, das aufregende Spiel mit dem Tod. Daneben präsentiert Marlene Dumas (*1953) großformatige Blätter aquarellierter Köpfe, die sie nach Medienbildern von zum Tode verurteilter Menschen geschaffen hat. Dargestellt mit verbundenen Augen, resigniert oder aufbegehrend, wirken sie wie bereits Geköpfte. Wissend einem gewaltvollen Tod ausgeliefert wird die Bestialität der Todesstrafe eindrücklich sichtbar. Bei Dumas zeigt sich die Macht über Leben und Tod, bei Merrick ist es der Rausch der Geschwindigkeit, dem das Leben mit Leichtigkeit übergeben wird.

Damien Deroubaix‘ (*1972) düstere Grafiken und Gemälde führen in einer Kombination aus Totentanz-, Comic-, Trash- und Death Metal-Ästhetik in den Kosmos innerer Ängste, Alpträume und uralter Mythen. Besonders eindrücklich ist eine Sphinxdarstellung, hochaufgerichtet mit grimmigem Mund, bereit den zu verschlingen, der ihr Rätsel nicht löst. Hinzu treten Raymond Pettibons (*1957) Abrechnungen mit kranken Zügen der amerikanischen Gesellschaft. Die historischen Grafikzyklen verankern die zeitgenössischen Positionen in der Menschheitsgeschichte. Callots feine eindrückliche Stiche zeigen Gräueltaten des Dreißigjährigen Krieges. Beispielsweise steigt ein Priester mit vorgehaltenem Kreuz eine Leiter an einem riesigen Baum hinauf, an dem unzählige Leiber baumeln. Ein anderes Blatt offenbart die schiere Verwüstung von Mensch und Gut, wenn Soldaten einen Bauernhof plündern. Dürers Holzschnitte visualisieren das Weltende der Johannesoffenbarung: apokalyptische Reiter, Posaunenengel, das Ende aller Gesellschaftsschichten.

Eindrücklich sind außerdem Beni Bischofs (*1976) dicht gesetzte Tuschestriche auf dickem Löschpapier. In Form von Kritzeleien, Mustern, Fratzen und glotzenden Augen bahnt sich das Unbewusste seinen Weg. Zu dieser psychodynamischen Position gesellen sich im nächsten Saal eindrückliche organisch wachsende schwarze Gebilde von Sara Masüger (*1978) aus PU-Schaum, Gummi und Lack. Das Abgründige ist anziehend und schrecklich schön.