Małgorzata Mirga-Tas, Eine alternative Geschichte.
Kunstmuseum Luzern, Europaplatz 1, Luzern.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 15. Juni 2025.
Zum Werk von Małgorzata Mirgas-Tas ist eine Monografie erschienen: Tate Publishing, London 2024, 96 S., 14,95 Euro | ca. 23.90 Franken.
Die Erzählung klingt so düster wie ein grausames Märchen, das das Böse bannen soll. Doch Alfreda Noncia Markowska hat wirklich gelebt und in dieser Geschichte sind Nazis sozusagen der Wolf. Schlicht „Noncia“ lautet der Titel von Małgorzata Mirga-Tas (*1978) kurzer Animation (Regie: Hamze Bytyci). Es ist der Name, unter dem die polnische Romni in der Community bekannt ist. Als Oberhaupt einer großen Familie, die sie selbst gründete. Denn die Nationalsozialisten überfielen 1941 das Lager, in dem Alfreda Noncia Markowska in einem Wald in der Woidwodschaft Lublin mit ihrer Familie lebte. Das damals 16-jährige Mädchen und ihr Mann überlebten durch einen Zufall. Sie wurden in Zwangsarbeiterlager und Ghettos verschleppt, eine Szene in der Animation zeigt sie zusammen mit jüdischen Mädchen, wie sie Federn verarbeiten. Da die Luft voller Daunen war, überließen die Wächter die Mädchen der Arbeit, Alfreda Noncia Markowska nützte dies, um die Kinder, die sie vor dem Zugriff der Deutschen rettete, zu verstecken. Das erste Kind wurde ihr aus einem Zug nach Auschwitz von der Mutter übergeben, gut 50 Kinder rettete sie: Sinti und Roma, jüdische Kinder, auch deutsche. Als 80-Jährige wurde sie dafür vom polnischen Staat geehrt.
Es gibt also viel zu erzählen, nicht zuletzt Heldinnengeschichten. Małgorzata Mirga-Tas, selbst Romni, berichtet von ihnen mit Nadel und Faden sowie Stoffen. Seitdem sie 2022 den polnischen Pavillon der Biennale von Venedig bespielte, ist ihr Werk international in großen Häusern zu sehen. Ihre Ausstellung im Kunstmuseum Luzern „Eine alternative Geschichte“ ist eine Kooperation mit dem Kunstmuseum Wolfsburg und dem norwegischen Henie Onstad Kunstsenter. Im Sommer wird das Kunsthaus Bregenz der Künstlerin eine Einzelschau widmen. Stoff: die Nähe zwischen dem Material, aus dem unsere Kleidung besteht, und dem, aus dem wir unsere Geschichten erzählen, ist so verräterisch wie verführerisch. Małgorzata Mirga-Tas‘ Großmutter und Mutter haben genäht und als sie während einer Schwangerschaft nicht mehr plastisch arbeiten konnte, entdeckte die Enkelin, die in Krakau Kunst studiert hat, Stoffe als Material.
Vor allem in ihrer großen Installation „Re-Enchanting the World“, die für Venedig entstand, ist eine gleich doppelte, eindrucksvolle Aneignung zu sehen. Mirga-Tas hat die Struktur der Monatsbilder aus dem Palazzo Schifanoia in Ferrara auf ihre Wandbilder übertragen, die Tierkreiszeichen belassen und sie vervollständigt, aber den oberen und unteren Fries ersetzt durch historische und gegenwärtige Szenen der Roma-Kultur. Während der untere auf privaten Fotos beruht, die die Künstlerin nie öffentlich macht, hat der obere Fries unabhängig von dem ikonografischen Programm des Renaissance-Palazzos kunstgeschichtliche Bilder und Grafiken zur Vorlage. Sinti und Roma und ihre Kultur waren über Jahrhunderte im besten Fall ein pittoreskes Thema, meist jedoch Ausdruck von Rassismus. Mirga-Tas eignet sich stellvertretend nicht nur diese Motive an, sie gibt ihnen auch einen Körper durch Stoffe, die geprägt sind durch konkrete Menschen und die durch ihren ornamentalen Reichtum und ihre Buntheit auch für die Roma-Kultur stehen. Es ist ein komplexes System von Präsentation und Repräsentation, das sich in den Arbeiten von Małgorzata Mirga-Tas vollzieht. Die polnische Künstlerin nutzt Stoffe als Material für ihre Wandbehänge, als Malgrundlage, meist sind die Gesichter aufgemalt und sie schafft Volumen durch sie. Borten, Spitzen und Federn werden appliziert. In Luzern sind ihre Textilarbeiten als Paravent, als Element von Innenräumen, aber auch in Großformat an den Wänden und freischwebend zu sehen. Es sind Porträts aus ihrem eigenen Umfeld, aber auch von Frauen wie Esma Redzepova, Erika Varga und Shpresa Agushi, die als Sängerinnen und Designerinnen die Roma-Kultur verbreiten oder sich als Menschenrechtsaktivistinnen für sie engagieren.