Andrea Orejarena & Caleb Stein: Attrappen der Wirklichkeit auf der Spur

Andrea Orejarena & Caleb Stein, Pink Desert Facade, 2022, © Orejarena & Stein, Courtesy Palo Gallery, NY
Review > Hamburg > PHOXXI
25. Oktober 2024
Text: Belinda Grace Gardner

Andrea Orejarena & Caleb Stein: Tactics and Mythologies.
PHOXXI, Deichtorhallen, Deichtorstr. 1-2, Hamburg.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 25. Januar 2025.

www.deichtorhallen.de

Andrea Orejarena & Caleb Stein, Number Hill, 2022, © Orejarena & Stein, Courtesy Palo Gallery, NY
Andrea Orejarena & Caleb Stein, California City. Aerial View, 2022, © Orejarena & Stein, Courtesy Palo Gallery, NY
Andrea Orejarena & Caleb Stein, aus der Serie: Long Time No See, Manh, 2019 (u.r.), © Orejarena & Stein, Courtesy Vin Gallery, Hanoi

[— artline Nord] Im bunten Bilderrauschen der Social-Media-Kanäle werden Realitäten erzeugt und Wahrheiten erfunden: eine Destabilisierung der Gewissheiten zugunsten von Täuschungen, Fakes und Überblendungen, die eine verbindliche Sicht auf die Welt unterwandern und aushebeln. Das New Yorker Duo Andrea Orejarena (1994 in Kolumbien) und Caleb Stein (1994 in England) ist diesem Phänomen trügerischer, oft strategisch eingesetzter Mythenbildung in den digitalen Medien fotografisch und filmisch, in Eigenproduktionen und mittels Online-Fundstücken auf der Spur. Ihre erste europäische Solo-Ausstellung „Tactics and Mythologies“ mit dem Subtitel „Ein fotografischer Roadtrip durch die Bildwelten viraler Verschwörungstheorien“ zeigen die Künstler:innen jetzt im temporären Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg, PHOXXI. Die neue Kuratorin des Hauses der Photographie, Nadine Isabelle Henrich (*1990), Nachfolgerin des langjährig dort aktiven Ingo Taubhorn, startet damit die Reihe „Viral Hallucinations“. Von 2024 bis 2026 wird darin die Auswirkung von Bildern auf die Wahrnehmung und Generierung von Wirklichkeit in der Ära digitaler Bilder und KI mit Fokus auf der Verbreitung von Desinformation und Verschwörungstheorien untersucht.

In „Tactics and Mythologies“ präsentieren Orejarena & Stein zwei größere Projekte, „American Glitch“ und die schwarz-weiße Serie „Long Time No See“ (2015–2020). In der ersten Bildgruppe versammeln sie zum einen Material aus ihrem Archiv von Fotos, Found Footage und KI-generierten Images, die aktuell über Social-Media-Kanäle fiktions- und mythenbildend in Umlauf sind. Dem stehen großformatige Landschaftsaufnahmen gegenüber, fotografiert bei ihrer Erkundung von online zirkulierenden, „viralen“ Ereignissen und Schauplätzen auf Reisen durch die USA. Der Begriff „Glitch“ verweist hier auf Bildstörungen, die laut Konspirationsanhänger:innen eine vorgeblich simulierte, in visuellen Abweichungen zutage tretende Alltagsrealität beweisen. An den seltsam unbevölkerten Nicht-Orten, die Orejarena & Stein auf ihren Roadtrips frontal mit der digitalen Hasselblad-Mittelformatkamera einfingen, sind attrappenartige Bauten wie die Kuppel einer Mars-Station zur Simulation des Lebens auf dem fernen Planeten oder ein Fassaden-Dorf zu sehen, das der Vorbereitung von US-Soldaten zum Einsatz im Irak dient. Bei einer defekten Statue des historischen US-Präsidenten Abraham Lincoln mit zerstörtem Hinterkopf wird die reale Struktur hinter der glatten Erscheinung sichtbar wie bei einer technischen Panne im Computerspiel.

Andrea Orejarena, Kognitionswissenschaftlerin, Fotografin und Videokünstlerin, und Caleb Stein, Dokumentarfotograf, lernten sich zu Beginn ihres Studiums 2013 am Vassar College im US-Bundesstaat New York kennen. Seitdem erforschen die Künstler:innen in ihrem gemeinsamen Werk, das international in Kunstinstitutionen und auf Fotofestivals ausgestellt wurde, das Format der fotografischen Dokumentation sowie Bilder als Medien der Repräsentation, Simulation und Manipulation von Wirklichkeit. Die sachliche Anmutung ihrer Fotografien offenbart subtil die Doppelbödigkeit der Bilder und deren Sujets und enttarnt die Realität hinter der Verschwörungstheorie ebenso wie die vorgegaukelte Inszenierung der Wirklichkeit.

Ihre eindringliche, meditativ-poetische Bildgruppe „Long Time No See“, entstanden während ihres mehrjährigen Aufenthalts in der Nähe von Hanoi in Kollaboration mit vietnamesischen Künstler:innen und anderen Mitwirkenden vor Ort, befasst sich mit den Folgen des Vietnamkriegs und dessen visuellen Repräsentationen zwischen Propaganda, Dokumentation und Wiedergutmachung. Dabei geht es vor allem um eine Neubetrachtung und Umdeutung des Bildgedächtnisses von vietnamesischer Seite aus: die Erfassung vielschichtiger Wirklichkeit zwischen Geschichte und Gegenwart jenseits der ideologisch motivierten Falschmeldungen und Informationskontrolle.