Hans Werner Kirschmann: Plattengrammatik.
Gerhard Marcks Haus, Am Wall 208, Bremen.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 10.00 bis 21.00 Uhr.
Bis 17. November 2024.
[— artline Nord] Kunst entsteht aus Kunst, Betrachtung richtet sich auf visuelle Tatbestände. Doch so oft die Begegnung mit Abstraktion auch praktiziert worden ist, immer wieder meldet sich der Drang nach Entzifferung einer vor-bildlichen Wirklichkeit. Vor den Werken von Hanswerner Kirschmann hält dieses Abschweifen nicht lange an. Schon bald fügt sich das Auge der formalen Disziplinierung. Strukturen besetzen die Oberflächen. Konstruktionsprinzipien schieben sich vor das „Werk“, Elemente vor das Ganze. Abstraktion wird figürlich und gewinnt Körperlichkeit. So zeigen sich Gestalt und Gehalt gleich. Der von Subjekt und Objekt geteilte Raum wird als Funktion von Skulptur und Installation sowie der Standorte und Blickwinkel der Betrachtenden sichtbar.
„Plattengrammatik“ betitelt Hanswerner Kirschmann (*1954) seine Ausstellung im Bremer Gerhard-Marcks-Haus. „Platten“ sind die Bauteile, aus Flächen erschafft er Objekte. Sein Verfahren lässt sich auf eine Formel bringen: von der Zwei- in die Dreidimensionalität. Platten sind das Ausgangsmaterial für Wiederholung und Differenz. Er nutzt Konstruktionselemente, Bauholz. Fern von Dekor. Platten in verschiedenen Größen und Formen dienen als Module. Sie werden nach unterschiedlichen Kriterien gereiht, gestapelt, gefügt. Mögen die Prinzipien auch nicht gleich zu entschlüsseln sein, das Konstruktive teilt sich mit. Ein Element ruft das nächste hervor. So entstehen Zusammenhänge. Die Art der Anschlüsse und Koppelungen wird von den einzelnen Gliedern und ihren Verbindungsmöglichkeiten bestimmt. Druckkräfte und Spannungen werden ausbalanciert. Bei den Beziehungen zwischen Energie, Kraft und Form spielt auch ein gefühlsmäßiges Urteil mit. Es befähigt, formale Prinzipien mit strukturellen Möglichkeiten in Einklang zu bringen. Der Umfang eines Kubus kann ohne jede Spur von Masse ausgedrückt werden. Beim Aufbau des Objekts, mag es liegend, stehend, freitragend, hängend, (an-)lehnend sein, wirken die Raumgegebenheiten mit, Höhe, Breite, Tiefe, Ausdehnungen, Nachbarschaften.
Es geht nicht in erster Linie darum, Objekte im Raum zu präsentieren und zu positionieren, sondern darum, dass Objekte den Raum bestimmen, begrenzen, umschließen, dass sie sich die räumlichen Möglichkeiten einverleiben und nicht vom Raum in Dienst genommen werden. Der Raum ist neben den physischen Eigenschaften eine imaginäre und intuitiv erfasste Größe, die von den Dingen und den Personen, die ihn besetzen, mit Inhalt gefüllt wird. Diese inhaltliche Füllung hängt mit der Raumerinnerung der Betrachtenden, leiblich Anwesenden zusammen. Die individuelle Erfahrung von Proportionen und Positionen wird durch die räumlichen Impulse aktualisiert. So entstehen Objekte aller Art, die nur im Ausnahmefall an Dingliches in funktionalen Wirklichkeiten denken lässt. Einmal taucht die Assoziation an ein Maschinenteil auf. Doch mit einer Verschiebung des Blicks stellt sich ein anderes, das „eigentliche“ Wesen des Werkes ein: ein konstanter Winkel ordnet das Gefüge. So erklärt sich auch das zweite Nomen des titelgebenden Kompositums: „Grammatik“. Nicht um einen inhaltlichen, semantischen Abgleich geht es, sondern um Regeln für Ordnung und Fügung. Beugung, Konjunktion, Präposition. Ein flexibles System, beschreibend, nicht vorschreibend.
Dass Menschen eine Sprache beherrschen, befähigt sie nicht, über Grammatik zu reden. Sie benutzen die sprachlichen Regeln ohne sie benennen zu können. Reflexion beginnt meist dann, wenn eine Störung eintritt oder wenn sich der Kontext verändert. Ein Spezialgebiet für Störung, Transformation und Reflexion ist die Kunst. Hier agieren Grammatiker, Strukturalisten, Formalisten, die sich mit dem Augenschein nicht begnügen, die sich durch Oberflächen arbeiten und Organisation erschließen. Kirschmann macht Gefüge und Fugen anschaulich. Keine Freiheit ohne Regel und Rahmung. Die Harmonik der bildhauerischen Verfahren und die Schönheit der Ordnung verzweigen sich zum Reiz der Abweichungen. Bildhauerei, ein Spiel.