Sarah Lucas, Sense of Human: Bunnys mit Persönlichkeit

Sarah Lucas
Sarah Lucas, SIX CENT SOIXANTE SIX, 2023, Detail, Foto: Katie Morrison, © Sarah Lucas, Courtesy Sadie Coles HQ, London
Review > Mannheim > Kunsthalle Mannheim
22. Juli 2024
Text: Carmela Thiele

Sarah Lucas: Sense of Human.
Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4, Mannheim.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr. Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 20. Oktober 2024.
www.kuma.art

Sarah Lucas
Sarah Lucas, Au Naturel, 1994, © Sarah Lucas, Courtesy Sadie Coles HQ, London
Sarah Lucas
Sarah Lucas, Self-Portrait with Fried Eggs, 1996, © Sarah Lucas, Courtesy Sadie Coles HQ, London

Was einmal ein Aufreger war, erscheint 25 Jahre später in einem weniger grellen Licht. Bekannt geworden mit den Young British Artists, setzte Sarah Lucas (*1962) auf krasse Bilder voller Anspielungen auf männliche Dominanz. Wer jetzt ihre Werkschau in der Mannheimer Kunsthalle mit dem Titel „Sarah Lucas. Sense of Human“ besucht, lernt nicht nur die Vielfalt ihrer Ausdrucksformen kennen, sondern entdeckt auch die Zwischentöne ihrer absurden Gesten. Die Kuratorin Luisa Heese spricht von „einer der spannendsten Positionen der Skulptur der Gegenwart“. Die Ausstellung handele vom Menschen, von Normen, von Zuschreibungen, von „Maskulinitäten als soziale Konstruktion“. Die Künstlerin selbst macht weit weniger Aufhebens um ihre Person. Sie lebt heute auf dem Land in Suffolk und sinnierte kürzlich in einem Gespräch mit der britischen Tageszeitung Guardian über kostenlose Busfahrten, die ihr seit ihrem 60. Geburtstag zuteil würden. Die Künstlerin hat ihren Biss jedoch nicht verloren. Auch wenn sie selbst mit Distanz auf ihre frühen Werke blickt. Ikonisch wurde eine ihrer fotografischen Selbstporträts von 1996, das als Postkarte eine immense Verbreitung fand. „Self-portrait with Fried Eggs“ zeigt eine Person mit zerrissenen Jeans und olivgrünem Shirt breitbeinig in einem Armstuhl sitzend – mit zwei gebratenen Spiegeleiern auf den Brüsten.

Die Tochter eines Milchmanns kam eher zufällig zur Kunst. Sie studierte in London am Goldsmiths College, wo sie jene Künstler kennenlernte, mit denen sie unter dem Label „Young British Artists“ berühmt werden sollte. Das war der Titel der Ausstellung, die, kuratiert von Damien Hirst, 1988 für Furore sorgte und eine Gruppe unangepasster junger Leute ins Zentrum der Aufmerksamkeit katapultierte. Sarah Lucas selbst gelang der Durchbruch erst Mitte der 1990er Jahre. Indem sie sich männliche Posen aneignete und in surrealer Manier mit einem gerupften Huhn, einem schimmernden Lachs oder einem Totenkopf inszenierte, schuf sie rätselhafte, metaphorisch aufgeladene Bilder. In Mannheim zeigt die Künstlerin diese frühen Werke reinszeniert als monumentale Fototapeten. Lucas ergeht sich nicht in Männer-Bashing, sondern spiegelt das Verhalten und den eingeschränkten Blickwinkel des sogenannten starken Geschlechts.

Heute gehört Sarah Lucas zu den führenden Künstlern Großbritanniens. Im vergangenen Jahr widmete ihr die Tate Britain in London eine große Schau, 2015 repräsentierte sie das Land auf der Biennale von Venedig. Die Berliner Galeristen Bruno Brunnet und Nicole Hackert (CFA) entdeckten Sarah Lucas zu Beginn der 90er Jahre. Für ihre erste Ausstellung 1996 in ihren neuen Räumen in Mitte steckten sie vor der Tür einen alten Sessel in Brand, nur wenige Minuten, damit er verkohlt aussah. Sarah Lucas hatte ihn zuvor in Berlin-Charlottenburg auf einem Balkon entdeckt und dem Besitzer abgekauft. Auf der Sitzfläche thront ein aus Zigaretten geformter Integralhelm. In der Mannheimer Ausstellung erinnert die Skulptur „Is Suicide Genetic?“ an die Ära kettenrauchender Motorradfahrer.

Seit den Nullerjahren dominieren groteske „Bunnys“ ihre Produktion. Dabei handelt es sich um Figuren aus ausgestopften Strumpfhosen. Bündel aus gebas­telten Genitalien und Beinen ohne Kopf lümmeln auf Stühlen, die von einer sexualisierten Gesellschaft erzählen. Reale Stühle und Sessel dienen ihren Figuren als Sockel. Es ist immer etwas Alltägliches in ihren Arbeiten, das das Überdrehte erdet. Für ihren Biennale-Auftritt 2015 im britischen Pavillon formte sie die Körper von Freundinnen von den Brüsten abwärts in liegender Pose ab. Einer dieser Torsi liegt auf einer Kühltruhe, im After eine Zigarette. Pop ist allgegenwärtig in ihrem Werk. Zeppelin-Skulpturen, wohl benannt nach der Rockgruppe Led Zeppelin, hängen wie ein stummer Soundtrack von der Decke. Es gibt Exemplare aus Beton, beklebt mit Coca-Cola-Logos oder hautfarben mit Unterarm in deutlicher Auf-und-ab-Bewegung. Ein Penis sei aber nicht zu sehen, bemerkt Sarah Lucas in einem Interview. Die Interpretation überlässt sie den Betrachtern. „Die Bunnys haben durchaus Persönlichkeit“, bemerkt sie beim Rundgang durch die Mannheimer Ausstellung. „Finden Sie nicht?“