Franz Gertsch: Der Maler und seine Musen

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18. September 2020
Text: Helen Lagger

Franz Gertsch: Die Siebziger.
Museum Franz Gertsch, Platanenstr. 3, Burgdorf.
Dienstag bis Freitag 10.00 bis 18.00 Uhr, Samstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr.
Bis 4. Oktober 2020.

www.museum-franzgertsch.ch

Katalog:
Hatje Cantz, Ostfildern 2020, 208 S., Englisch, 44 Euro / ca. 55.90 Franken.

Dick aufgetragene Schminke, lange Haare, Pelzmäntel, Feder­boas, Cowboystiefel und jede Menge Glitzer: Die Siebzigerjahre waren modisch so prägend, dass bis heute jedes Jahr von Neuem ein Revival heraufbeschwört wird. Der Maler Franz Gertsch tauchte in dieser schillernden Epoche in eine avantgardistische Szene ein, die sich rund um den Künstler Luciano Castelli, einer Schlüsselfigur der Luzerner Bohème, formiert hatte. Die fotorealistische Malerei aus dieser Zeit bedeutete für Gertsch, der sich selbst als Romantiker verstand, den internationalen Durchbruch. Anlässlich seines 90. Geburtstages zeigt das Museum Franz Gertsch nun mit der von Gastkuratorin Angelika Affentranger-Kirchrath konzipierten Schau „Franz Gertsch. Die Siebziger“ eine umfangreiche Ausstellung mit zahlreichen Leihgaben.

Ein besonderer Reiz liegt in der parallel dazu stattfindenden Kabinett-Ausstellung „Luciano Castelli. Reckenbühl“. Hier taucht man ein ins Reich von Franz Gertschs Musen. Nebst Malerei von Castelli – der sich oft als sein weibliches Alter Ego Lucille selbst porträtierte – geben hier zahlreiche Fotos und eine Dokumentation des Schweizer Fernsehens aus dem Jahre 1974 Einblick in eine ebenso glitzernde wie dekadente Lebenswelt, irgendwo zwischen Easy Rider und Rocky Horror Picture Show. Castelli und Konsorten feierten wilde Feste in Kostümen, die sie wie Varieté-Künstler der Dreissigerjahre aussehen liessen und fuhren auf Motorrädern zu schicken Anlässen. Franz Gertsch hatte die Truppe über Jean-Christophe Ammann, den damaligen Leiter des Kunstmuseums Luzern kennengelernt. Gertsch war bald Gast in der Villa Reckenbühl, einem Jugendstil-Haus in dem Castelli eine Wohngemeinschaft eingerichtet hatte. Hier entstanden ikonische Gemälde wie „At Luciano’s House“ (1973) oder „Marina schminkt Luciano“ (1975). Gertsch selbst wahrte stets Distanz zu seinen Modellen. Er war bereits ein 41-jähriger Familienvater als er auf die knapp 20-jährigen schrägen Vögel traf. Das Ganze sei ihm im Rückblick wie ein Delirium erschienen, so der Künstler. „Es war fantastisch, was ich dort aufnehmen konnte. Diese Leute waren lässig und unbeschwert. Das kann man nicht wiederholen.“

Zu Castellis Dunstkreis gehörte auch die Zürcher Edelprostituierte Irene Staub. Gertsch porträtierte sie im Jahre 1980. Der Betrachter wird mit dem ebenso verführerischen wie verlebten Gesicht einer Frau konfrontiert, die im jungen Alter von 37 Jahren tödlich bei einem Motorradunfall in Thailand verunglücken sollte. Von einer ganz anderen Realität erzählen die Gemälde, die Gertsch ebenfalls in den Siebzigerjahren von Schnappschüssen aus dem eigenen Familienalbum schuf. „Maria mit Kindern“ (1971) zeigt die junge Maria Gertsch wie sie mit den vier gemeinsamen Kindern auf einer Alp sitzt. Gertsch malte mit Dispersionsfarbe auf Halbleinen, wodurch die Farben so stark leuchten, dass ein psychedelischer Effekt eintritt. Der US-amerikanische LSD-Guru Tim Leary (1920-1996) schrieb über diese Bilder mit grosser Begeisterung und lobte deren Mystik.

Ein Schlüsselbild im Werdegang von Franz Gertsch ist das hyperrealistische Gemälde „Medici“ (1971/72) das Künstlerfreunde von Franz Gertsch,
lässig über einem Baugerüst lehnend, zeigt. „Medici“ wurde an der Documenta gezeigt und schaffte es in den USA auf die Titelseite des Magazins „Life“. In seiner Heimat hingegen brauchte es eine gewisse Zeit, bis Gertsch Anerkennung fand. Spätestens als ihm der Burgdorfer Industrielle Willy Michel 2002 sein eigenes Museum errichtete, war die Rehabilitierung komplett. Gertsch malt trotz seines hohen Alters unermüdlich weiter. Keine geschminkten Gesichter mehr, sondern Gräser und Gewässer, die er an seinem Wohnort in Rüschegg fotografiert und in Malerei übersetzt. Es habe ihn vom knisternden Leben immer mehr zum Wesenhaften hingezogen, begründet Franz Gertsch diesen Wandel.