Marcel van Eeden, Das Karlsruher Skizzenbuch: Die Karlsruher Weißwurz

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27. Februar 2020
Text: Yvonne Ziegler

Marcel van Eeden: Das Karlsruher Skizzenbuch.
Staatliche Kunsthalle, Hans-Thoma-Str. 2-6, Karlsruhe.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 8. März 2020.
Katalog im Wienand Verlag, Köln 2019, 48 S., 20 Euro | ca. 29.90 Franken.

www.kunsthalle-karlsruhe.de

 

Geschichten erzählen ist eine hohe Kunst. Das wird einmal mehr deutlich, wenn man sich in das neuste Werk Marcel van Eedens vertieft. Der niederländische Künstler, der seit 2014 als Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe lehrt, hat die große Landesausstellung zu Hans Baldung Grien (1485-1454) zum Anlass genommen, eine verwickelte Geschichte um die Stadt, die Kunsthalle und die Altmeister Baldung Grien, Matthias Grünewald und Albrecht Dürer zu spinnen. Und Hans Thoma spielt darin auch einen Part.

Für die alten Schränke im Kupferstichkabinett hat Van Eeden eine Bilderfolge von insgesamt 25 Kohlezeichnungen angefertigt, deren Bild-Text-Kombinationen an Graphic Novels erinnern. Das erste Blatt gibt den Namen des Autors und den Werktitel wieder: „The Karlsruhe Sketchbook“. In ein weißes Feld ist überdies eine Pflanze gezeichnet, deren Schlüsselfunktion sich erst in den Blättern 20 und 21 lüftet. Es handelt sich um eine Darstellung der giftigen Weißwurz, die Van Eeden in Baldung Griens Karlsruher Skizzenbuch gefunden und abgezeichnet hat. Alle Bild- und Textelemente dieser und vorangehender Bilderzählungen gestaltete Van Eeden nach bereits vor seinem Geburtsjahr 1965 entstandenen Fotografien, Bildern, Zeitungsartikeln oder anderen Schriftstücken. So wie von Bild zu Bild von den Betrachterinnen und Betrachtern jeweils Lücken zu füllen und Anschlüsse zu imaginieren sind, so greifen auch die Textfragmente nicht nahtlos ineinander, sie springen vielmehr und entfalten ihren Sinn aus der Gesamterzählung.

Es geht um die fiktive Person, Thomas Keller, der 1916 am Fronleichnamstag Hans Thoma in der Kunsthalle Karlsruhe besucht, um Einblick in Baldung Griens Skizzenbuch zu erhalten. Das Auffinden der Zeichnung der Weißwurz bestätigt seine These, dass Baldung zusammen mit Grünewald und Dürer Kardinal Albrecht von Brandenburg vergiften wollte, ein mächtiger Gegenspieler Martin Luthers. Diese Entdeckung wird durch einen Luftangriff unterbrochen, bei dem der gerade in Karlsruhe gastierende Zirkus Hagenbeck bombardiert wird. Ein Kriegsereignis, das sich in das Gedächtnis der Stadt tief eingegraben hat.

In Van Eedens Zeichnungen finden sich zahlreiche Anspielungen und Verdichtungen: Etwa taucht wiederholt die Farbe Weiß auf – weiße Hüte, weiße Wäsche, Weißwurz und ein Herr White –, die liturgisch für Fronleichnam steht. Mit einem von Baldung gezeichneten vielflächigen Körper beschäftigt sich auch Thoma. Beim Aufdecken solcher Verweise wird die Konstruiertheit der Geschichte deutlich, die beim ersten Lesen gar nicht so auffällt. Das Entschlüsseln der Bilder, Texte und ihrer Verknüpfungen wird als mitgestaltender Vorgang greifbar und verbindet sich auf verschlungene Weise mit Baldung. Denn auch Baldung hatte eine Vorliebe für Rätsel und ungewöhnliche Neukombinationen. Mehrdeutig ist etwa die eindrückliche Grafik einer nackten „Kugelläuferin“ auf dunklem Grund. Auf zwei Kugeln stehend bewegt sie sich mühsam mit Hilfe von Krücken vorwärts. Hinter ihr schaut schelmisch ein Knabe hervor, der sie vorantreibt und frivol am Hintern fasst. Eine freche und zugleich einfühlsame Fortuna-Venus-Darstellung mit der Botschaft Maß zu halten? Vielleicht. Rätselhaft ist auch die Grafik „Der verhexte Stallknecht“, in der nicht nur der am Boden liegende Knecht, sondern auch die Blicke von Pferd und Frau den Betrachter zum Mitdenken auffordern.

Wie Van Eeden so rezipierte auch Baldung Vorbilder, mehr noch, er setzte sich von ihnen ab, nicht selten in selbstreflexiver übertriebener Manier. Insbesondere von Dürer, bei dem er fünf Jahre Geselle war. Die Zusammenschau ist sehr fruchtbar, denn der Kosmos von Baldung im Verbund mit Vergleichswerken von Dürer, Cranach und anderen Zeitgenossen schärft den Blick auf Van Eedens Erzählung. Und umgekehrt vermag dessen Auseinandersetzung mit Vorbildern und -geschichten den Wert von Betrachtung, Interpretation und Bilderfindung durch gegenseitige Rezeption zu offenbaren. So verwebt die Geschichte Kunst und Leben über die Jahrhunderte miteinander.