Sophie Calle, Un certain regard: Ein Mensch kann nicht nicht sehen

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25. Juli 2019
Text: Annette Hoffmann

Sophie Calle: Un certain regard.
Fotomuseum Winterthur, Grüzenstr. 44+45, Winterthur.
Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 25. August 2019.

www.fotomuseum.ch

Ist ein Mensch, der nichts sieht, so etwas wie eine Black Box, eine leere Kamera? Man kann die Irritation verstehen, die Sophie Calle (*1953) befallen haben muss, als sie das erste Mal das Klassenfoto des Institut national de jeunes aveugles in Paris gesehen hat. Das Foto wurde 1890 gemacht und zeigt mehr als 30 junge Schüler mit ihrem Blindenlehrer. Keiner von ihnen antwortet heute unserem Blick oder tat es jemals. Wie mögen sie gedacht haben, als sie für die Kamera posierten? Fühlten sie sich als Objekt von Voyeuren, und ihre Antwort war, das, was sie sahen, für sich zu behalten? 

Keine Bilder zu sehen, muss für Sophie Calle eine Provokation sein. Die historische Aufnahme steht ihrer Ausstellung „Un certain regard“ im Fotomuseum Winterthur voran und wird zumindest mit zwei Serien aufgegriffen. Doch das Bild der Blinden zieht sich als blindes Bild motivisch durch ihre Schau, die demnächst durch eine zweite im Kunstmuseum Thun flankiert wird. „Regard incertain“, so lautet der spielerische Titel, wird sich mit anderen Themen befassen und ermöglichen, dass man sich in der Schweiz derzeit intensiv mit dem Werk der französischen Künstlerin auseinandersetzen kann. Bereits in den 1980er Jahren kontaktierte Sophie Calle Menschen, die blind geboren worden waren. Anders als auf der historischen Aufnahme sind in „Les Aveugles“ nun auch Frauen und junge Mädchen porträtiert, die der Konzeptkünstlerin Auskunft gaben, wie sie sich Schönheit vorstellten. Sehende dürften ganz ähnlich antworten. Für den einen ist es die Farbe Weiß, weil es die Farbe der Reinheit sein muss, einer verweigert sich radikal dem Schönen und dem Bild, in Marokko beschreibt ein Mädchen das Haus, in dem es mit seiner Familie lebt, abgeschieden, ohne Strom, in die Berge geschmiegt. Ein Mann lässt vor unserem inneren Auge den Blick aus dem Spiegelsaal in den Garten von Versailles entstehen. Sophie Calle hat diese Ansicht wie all die anderen Vorstellungen vom Schönen fotografiert. Das Bild lehnt auf einer Leiste an der Wand, darüber hängen das Porträt und der Satz, der auch eine Anleitung zum Sehen ist. Schrift und Fotografie schlagen eine Brücke zu den Sprechenden und vermitteln etwas, was den Sehenden ansonsten verborgen bleibt. Es ist nicht selten der Bezug zum jeweiligen Menschen, der ihnen etwas als schön erscheinen lässt. Eine Frau beschreibt so die Landschaft in der Nähe von Cardiff: das Foto gibt zwar nicht den Wind wieder, aber vermittelt vielleicht den Eindruck von unendlicher Weite, sagt sie. Eine andere Arbeit, „La Dernière Image“ – auch sie nimmt wie jede der in Winterthur präsentierten Werkgruppen einen Raum ein –, führt 2010 Calles’ Auseinandersetzung fort. In der Türkei befragte sie dafür Menschen, die im Laufe ihres Lebens erblindeten, nach ihren letzten visuellen Ein­drücken. Sie sind oft bezeichnend für die Person. So erzählt eine Frau, dass sie sich an ihren Mann erinnert, der in ihrer Vorstellung nie älter wurde. Manches ist grotesk, wie die Erzählung eines Istanbulers, der in seiner Verzweiflung an einer Straßenlaterne Halt suchte und aus Versehen nach einem Frauenbein griff. Anderes ist traumatisch, nicht selten verloren die befragten Personen bei Unfällen, durch Krankheiten oder bei Verbrechen ihr Augenlicht.

Calles’ Kunst kreist Leerstellen ein, die Erinnerung, das, was in den Zeitläuften verschwand. Die vermeintliche Identität zwischen den geraubten altmeisterlichen Gemälden in ihrer Arbeit „Que voyez-vous?“ oder den abgebauten DDR-Denkmälern sowie den beseitigten Spuren in Berlin in „Detachment“ und der jeweiligen Erinnerung an sie, wird durch die Sprache unterwandert. Keine Arbeit kommt hier ohne Text aus. Die Worte verunklaren, schaffen uneindeutige Perspektiven und stellen das Rätsel des leeren Raumes aus. Man kann etwas nicht genau wissen und sich doch von der Sache ein Bild machen.