Then and Now: Avantgarde in der Vorstadt

Review > Neu-Ulm > Walther Collection
27. Mai 2019
Text: Nora Gantert

Then and Now: Life and Dreams Revisited.
Walther Collection, Reichenauerstr. 21, Burlafingen bei Neu-Ulm.
Geöffnet nach Voranmeldung unter www.walthercollection.com.
Bis 27. Oktober 2019.

„Then and Now – Life and Dreams Revisted“ zeigt Schlüsselwerke der chinesischen Avantgarde der 80er und 90er Jahre und kombiniert diese mit neueren Arbeiten aus China. Hinzu kommen die umfangreiche Präsentation Fotografien eines anonymen Fotografen, der Anfang des 20. Jahrhunderts durch China reiste, sowie Fotografien aus der Republikzeit. Der Kontrast der alten Fotografien, die doch vertraute Ästhetik der Reisefotografie, die Alltagsansichten ohne politischen Anspruch stehen konträr zur zeitgenössischen Formen- und Farbenwelt, deren Protagonisten selbstbewusst und künstlerisch mit sich und ihrer Umwelt umgehen. Am ehesten findet sich ein zartes Echo des alten China in der Videoarbeit Yang Fudongs „East of Que Village“, die sich Themen des ländlichen Lebens im heutigen China annimmt.

Durch den Sammlungsfokus der Fotografie lässt die Walther Collection Tendenzen der zeitgenössischen Kunst wie unter dem Brennglas erscheinen. Der menschliche Körper als Material ist in den Werken allgegenwärtig, sei es in Porträts wie in Zhang Hai’ers „Bad Girls“ oder in performativen Handlungen, wie der ikonischen Arbeit Ai Weiweis „Dropping a Han Dynasty Urn“. Besonders drastisch ist der Umgang mit dem eigenen Körper in den grenzgängerischen Performances Zhang Huans, deren Fotodokumentationen inzwischen zum Kanon der chinesischen Avantgarde gehören. Wirklich außergewöhnlich sind jedoch die frühen Videoarbeiten, die diese Performances dokumentieren, wovon gleich zwei in der Ausstellung zu sehen sind. So wird die Videodokumentation der Performance „To Add One Meter to an Anonymous Mountain“ hier präsentiert und gibt einen seltenen Blick frei auf den Ablauf der Performance, die sonst nur statisch und in ihrer letzten Sequenz als Foto gezeigt wird.

Das Weiße Haus ist ein Museumsneubau, der nur einen kleinen Teil seiner Größe auf den ersten Blick zu erkennen gibt. Erst nach dem Eintreten in das von Sichtbeton dominierte Innere blickt man hinab in das großzügige Untergeschoss. An der hohen Wand, die vom Untergeschoss bis unter das Dach reicht, ist mit der Fotoarbeit „One and Thirty – Artist“ von Zhuang Hui eine zentrale Arbeit der Sammlung gekonnt in Szene gesetzt. Ein Neuzugang zur Sammlung ist im Obergeschoss des Weißen Hauses eine von Simon Baker kuratierte Solo-Präsentation neuer Arbeiten des Fotografen Lin Zhipeng (aka 223). 223 rückt das Private, den Körper, das Geschlecht in den Mittelpunkt. Die einfache Hängung erweckt den Eindruck einer Werkschau im Studio des Künstlers und spiegelt die Flüchtigkeit der Momentaufnahmen wider. Aber ebenso wie die Bilder sehr wohl orchestriert und überlegt angeordnet sind, so ist auch die Präsentation nur auf den ersten Blick schnell entworfen. Die einzelnen Fotografien gehen im Raum Beziehungen ein und geben ein Gefühl für die Verletzlichkeit, die Fragilität und den Mut, die der Kunst der jungen Generation innewohnen.

Das Schwarze Haus ist nicht nur musealer Raum, sondern gleichzeitig auch das Wohnhaus des Sammlers, sodass sich die Besucher im lichtdurchfluteten Wohnzimmer bewegen und dort zum Beispiel die frühe Videoarbeit von Zhang Peili „Water (Standard Version from the Cihai Dictionary)“ aus dem Jahr 1991 betrachten können. In einem der kleinen Räume hängen zwei Fotografien aus dem „Twelve Flower Month“-Zyklus der Künstlerin Chen Lingyang. Die beiden dunklen Bilder zeigen ein in China ebenso wie in Deutschland tabuisiertes Bildthema: Die Künstlerin setzt die weibliche Periode bildlich-sinnlich in Szene, indem sie ihre Blutungen mit den in der klassischen chinesischen Kunstgeschichte und -sprache üblichen Blumen kombiniert. Diese Arbeit aus den Jahren 1999 bis 2000 ist bis heute äußerst relevant und eine der stärksten feminis­tischen Arbeiten der chinesischen Avantgarde der 90er Jahre. Und so wird man mit einer hochkarätigen und spannenden Ausstellung belohnt, die die großen Namen und kanonischen Werke der 80er und 90er Jahre mit aktuellen Positionen und dem klassischen Chinabild verbindet.