Ida Applebroog: Zart, poetisch und sehr, sehr zornig

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16. Mai 2019
Text: Alice Henkes

Ida Applebroog.
Kunstmuseum Thun, Hofstettenstr. 14, Thun.
Dienstag bis Sonntag 10.00 bis 17.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 19.00 Uhr.
Bis 19. Mai 2019.

www.kunstmuseum-thun.ch

So richtig zornig wirken sie eigentlich nicht, die „Angry Birds of America“, die Ida Applebroog (*1929) mit Aquarellfarbe, Tinte und Gips gestaltet. Zumal die gemalten Vögel eher aussehen, als würden sie sich gleich auflösen, zersetzen, aus dem Bildraum verabschieden. Manche sind gar kaum mehr als Vögel kenntlich. Allesamt wirken sie angeschossen, der Auflösung nahe. Die Angry Birds der Ida Applebroog sind eigentlich sehr verletzliche Wesen, unsicher, ausgeliefert, schutzlos.

Ida Applebroog ist eine US-amerikanische Multimedia-Künstlerin. In den USA ist sie bekannt als Malerin und Bildhauerin, die sich mit Gender-Fragen und sexueller Identität befasst, mit Politik und Gewalt. Sie hat zahlreiche Ehrungen und Preise erhalten. In Europa jedoch ist sie dem breiteren Publikum wenig vertraut. Das Kunstmuseum Thun zeigt nun erstmals eine institutionelle Einzelausstellung von Ida Applebroog in der Schweiz.

Die Thuner Schau verzichtet darauf, die Künstlerin in einer breit angelegten Retrospektive zu präsentieren. Sie konzentriert sich stattdessen auf zwei Werkgruppen. Da ist zum einen die bereits erwähnte Gruppe der gemalten und modellierten „Angry Birds of America“, für die Applebroog sich von den Illustrationen zu „The Birds of America“ von James LaForest Audubon inspirieren liess. Die Bilder und Gipsfiguren sind fragil und farbig. Sie wirken poetisch, die Künstlerin will sie aber auch politisch verstanden wissen. Die angry birds verdanken ihren Namen den angry white men, die Donald Trump ins Weisse Haus gebracht haben. Der namentliche Bezug auf die politische Lage der USA ist deutlich, inhaltlich bleibt Ida Applebroogs Position eher offen.

Zum andern zeigt das Kunstmuseum Thun eine Serie, die in den späten 1960er Jahren entstand und die stark biografisch fundiert ist. Gleichzeitig ist diese Serie – und das ist nur scheinbar ein Widerspruch – typisch für ihre Entstehungszeit. Bis Ende der 1960er Jahre führte Ida Applebroog das Leben einer mittelständischen Ehefrau und Mutter. Während ihr Mann Karriere machte, lebte sie ihre künstlerischen Interessen auf Hobby-Ebene aus. 1969 landete Ida Applebroog mit einer Depression in einer Klinik in San Diego. Dort entstanden Zeichnungen, Bilder, Objekte, zart, filigran, berührend. Ida Applebroog liess diese Arbeiten nach ihrer Entlassung in der Klinik zurück. Ein medizinischer Assistent fand die Werke nach Jahrzehnten wieder. Für die Künstlerin war es ein Schock, diese Arbeiten nach all den Jahren wiederzusehen. Sie zeigen oft figurative Motive, wirken traumartig, verwunschen, wie aus fremden Welten. Auch hier zeigt sich deutlich etwas sehr Zartes, Zerbrechliches, Verwundbares. Für Besucherinnen und Besucher der Ausstellung sind die Arbeiten eindringliche Zeugnisse der Verletzlichkeit der Künstlerin, aber auch ihres Aufbegehrens gegen eine als nicht erfüllend, nicht erträglich empfundene Lebenssituation.

Parallel zur Ausstellung Ida Applebroogs zeigt das Kunstmuseum Thun die Gruppenschau „Extraordinaire!“ mit Werken von Schweizer Psychiatrie-Patientinnen und -Patienten des 19. Jahrhunderts. Der Ausstellung liegt ein ehrgeiziges Forschungsprojekt der Zürcher Hochschule der Künste zugrunde, für das Krankenakten und historische Sammlungen von 22 Kliniken durchsucht wurden. So entstand eine Bilddatenbank mit über 5.000 bisher unbekannten Werken von Psychiatrie-Patienten. Eine kleine Auswahl dieser Arbeiten wird nun im Kunstmuseum Thun präsentiert. Das Forschungsprojekt und die Ausstellung sind ambitioniert, keine Frage. Und doch stellt sich die Frage, ob die räumliche Nähe zu dieser Schau der Ida Applebroog-Ausstellung gut tut. Oder ob hier nicht der Aspekt der seelischen Verwundbarkeit überbetont wird. An der Strahlkraft der Applebroogschen Vögel ändert das freilich wenig.