Wolfgang Tillmans: Ein Bilderreigen wie ein großer Soundtrack

Review > Basel > Fondation Beyeler
5. Juni 2017
Text: Isabel Zürcher

Wolfgang Tillmans.
Fondation Beyeler, Baselstr. 77, Riehen/Basel.
Montag bis Sonntag 10.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 10.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 1. Oktober 2017.
www.fondationbeyeler.ch
Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen:Hatje Cantz, Stuttgart 2017, 296 S., 58 Euro | ca. 79.90 Franken.

Er sieht, wie sich die Risse auf der Haut eines erkalteten Kaffees zum Bild eines Baums verzweigen. Seine Linse vergleicht den harten Glanz einer Klinge mit dem Lichtreflex auf dem Rot von Granatapfelkernen. Er hat vom Zufall drapierte Kleider in den Blick genommen sowie Männer und Frauen, die ihm nahe sind. Und er hat die Bildwerdung getestet, wenn er auf seine Kamera ganz verzichtet oder Oberfläche von Fotografie in ihrem Eigenwert gelten lässt. Wolfgang Tillmans ist in der Fondation Beyeler zu Gast. Zwölf Säle hat der 48-jährige Künstler mit einer grossen Auswahl aus seinem Bilderfundus bestückt. Es gibt keine Leserichtung in seiner Schau und keine chronologische Folge. Gross- und Kleinformate sind manchmal gerahmt hinter Glas, manchmal nur mit Klebstreifen an die Wand fixiert. Das intime Bild, das einem privaten Fotoalbum entstammen könnte, trifft auf Aufnahmen, deren Grösse den Kontakt aufnimmt zur amerikanischen Nachkriegsmalerei. Den Übergang vom analogen zum digital generierten Bild, den Tillmans um 2009 vollzog, nimmt die Hängung ebenso nahtlos in sich auf wie die Wechsel zwischen Interieur und Rückenakt, Porträt oder Landschaft.

Urban ist der Blick, mit dem Tillmans seit den späten 1980er-Jahren seinen Weg von Jugendclubs in den internationalen Ausstellungsbetrieb gefunden hat. Seine Bilder waren gezeichnet vom Freiheitsdrang, der Körper und Requisiten nach eigenen Gesetzen ordnet. „In den Achtzigern aufzuwachsen bedeutete, dass Fragen des Stils, der Musik, der Jugendkultur allesamt schon von sich aus politisch schienen – wie Schwulenrechte, sich verkleiden, Schminke tragen, der Protest gegen Waffen”, wird Tillmans retrospektiv im Begleitkatalog zitiert. Viele Haltungen hätten in der Kleidung Ausdruck gefunden. „In diesem Sinne beschäftigte mich die Beziehung zwischen Privatleben und Politik sehr – wen ich küsse, wie ich tanze.” Der Kuss, die Party, die Oberflächen des Privaten und das Verhältnis zwischen Körper und Bild: So durchlässig lassen sich Leitmotive der Ausstellung skizzieren, die nun Tillmans Werk von 1986 bis heute grosszügig auffächert.

Bereits die diskret an die Wand applizierte Beschriftung legt es nahe: Man hat den grössten Gewinn, wenn man aufs Lesen verzichtet, sich treiben lässt und den Bilderreigen aufnimmt wie einen Soundtrack. Auch angesichts von tagesaktuellen Motiven, etwa einer Demonstration für die „Free Gender Expression”, einem „Black Lives Matter Protest” oder Flüchtlingen, die sich vor Scheinwerfern schützen, ertastet man jene Grenzen zwischen persönlichem und öffentlichem Erleben, die in den letzten zwanzig Jahren so flüssig geworden sind. „Freischwimmer” heissen die Bilder, die das pure Licht als schwebende Linienbündel ins Fotopapier zeichnen. Sie erinnern an Tinte, Blut, Haar oder pflanzliches Wachstum. Zum „Freischwimmer” wird man selbst beim Wandeln entlang von Wolfgang Tillmans Zimmerpflanzen, Freundesporträts oder Strandabschnitten. Sein Sehen ist taktil, mild und von einer diskreten Verschwiegenheit. Das ist souverän inszeniert, und es hat eine Leichtigkeit, welche die Distanz zwischen Kunst und eigener Welterfahrung einebnet.

Bilder sind persönlich, ihre Oberflächen spielen mit dem Wissen um Intimität und Begehren. Doch nicht nur. Wenn sich die Lektüre von Tillmans Schaffen lange kaum von seiner Person lösen wollte, kann man ihn heute zeigen, ohne dass er Thema wird. Es geht ums Sehen, und es geht um Bilder, die allen gehören könnten. Seine Kunst schmiegt sich grossen Traditionen an und schlägt die Ästhetik von Lifestyle-Magazinen darum noch lange nicht aus. Wer die Fondation Beyeler vor allem als Ort der klassischen Moderne kennt, wird sich die Augen reiben und vielleicht eine Spur davon erleben, was die Welt bei der Erfindung der Fotografie in Staunen versetzte: Das Materielle, Greifbare, Haptische der Malerei, wie sie noch vor wenigen Wochen in denselben Sälen zu sehen war, exponiert Fotografie in ganz besonderem Mass als ein Medium, das nur durch Licht auf empfindlicher Haut Bilder erzeugt. Ihr Körper lebt zuletzt immer in unserer Vorstellung.