Kaptialströmung: Beim Barte des Propheten

Review > Tübingen > Kunsthalle Tübingen
13. Mai 2017
Text: Christian Hillengaß

Kapitalströmung.
Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, Tübingen.
Dienstag 11.00 bis 19.00 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 11. Juni 2017.
www.kunsthalle-tuebingen.de

Karl Marx hat inzwischen schon einen sehr, sehr langen Bart. Aber immer noch wird man kaum um ihn herumkommen, wenn man Inspirationen und Blickwinkel sucht, die heutigen globalen Verhältnisse von Arbeit, Geld und Gesellschaft zu ergründen. So wird der Gottvater der ökonomischen Welterklärung auch von einigen der Kunstschaffenden angerufen, die derzeit in der Kunsthalle Tübingen den Status quo des modernen Kapitalismus beleuchten. Unter dem Titel „Kapitalströmung“ versammelt Ausstellungsmacher Holger Kube Ventura dreizehn künstlerische Perspektiven auf ein Phänomen, das inzwischen so gut wie alle Bereiche unseres Seins durchdringt, aber in der Vorstellung erst einmal relativ abstrakt bleibt: Kapitalbewegungen rund um den Globus zur maximalen Gewinnausschöpfung.  

Am eindrücklichsten sticht Karl Marx den Besuchern als Galionsfigur der „Independance of the Seas“ entgegen, einem riesigen Kreuzfahrtschiff, das Holger Wüst auf seinem 3,75 auf 19 Meter großen Panoramabild am venezianischen Markusplatz anlegen lässt. Statt Touristen kommen Flüchtlinge, Zelte stehen auf den Sightseeing-Plätzen, Polizisten patrouillieren, Fernsehteams bereiten ihre Berichterstattung vor. In ihrer Fotorealität wirkt die Szenerie wie ein faszinierendes, großformatiges Wimmelbild. Nicht zuletzt weist das Werk darauf hin, dass die Ströme des Kapitals die Grafiken der Aktienkursen steigen und fallen lassen und zudem ganz reale Migrationsbewegungen auslösen, ja erzwingen. Betrachter des Panoramas haben die Gesprächsfetzen der benachbarten Videoarbeit „Some Engels“ von Sven Johne im Ohr, der ein Vorsprechen verschiedener Bewerber vor einem US-amerikanischen Casting-Direktor inszeniert. Es geht darum, den geeigneten Kandidaten zu finden, der als Friedrich Engels die Grabrede auf Marx hält. Die Bewerber werden nicht nur mit dem Ankleben eines künstlichen Bartes schikaniert, sie geben im Gespräch auch „ungewollt tiefe Einblicke in den von jahrelanger Arbeitslosigkeit genährten Abbau ihres Selbstwertgefühls“, wie Kurator Ventura treffend bemerkt. „Roses of Africa“, ebenfalls von Sven Johne, zeigt zwölf großformatige Nahaufnahmen von Rosen, die für den Hamburger Blumengroßmarkt täglich frisch aus Kenia eingeflogen werden, aber keine Abnehmer gefunden haben. Neben den Rosensträußen reihen sich überdimensionierte Euroscheine an der Wand. Filip Markiewicz hat sie mit Bleistift gezeichnet und die Fratzen des medien-gehypten Weltgeschehens in sie eingewirkt. Eine gruselhafte Bescheinigung der Gleichzeitigkeit banalster und grausamster Nachrichten, die vor allem auf eines zielen: den Marktwert. Nicht minder alptraumhaft: der Frankfurter Totentanz von Florian Haas, der die mittelalterliche Bildtradition des Totentanzes als Comic ins Heute überträgt und damit ein 4 auf 15 Meter großes Porträt der Finanzmetropole Frankfurt am Main entwirft. Ebenfalls wie aus einem skurrilen Comic, aber leider sehr real ist die Fotoreportage von Paolo Woods und Gabriele Galimberti, die über drei Jahre die wichtigsten Steueroasen der Welt besucht haben und die Akteure der „Tax Havens“ zeigen.

Wer sich bislang noch nicht satt gegruselt hat, dem sei die Arbeit von Mark Boulos empfohlen, der in einer Zwei Kanal-Videoinstallation Aufnahmen von Brokern an der Börse von Chicago nigerianischen Fischern gegenüberstellt, die angesichts der Ausbeutung ihres Landes durch ausländische Konzerne zu den Waffen greifen. Die Arbeit besticht mit frappierenden Ähnlichkeiten im Gehabe der Akteure auf beiden Seiten. Für Holger Kube Ventura ist es die erste und zugleich vorletzte Ausstellung als Direktor der Kunsthalle, da er das Haus im Herbst auf eigenen Wunsch wieder verlassen wird. Das ist zu bedauern, ist ihm damit doch ein beachtenswerter Einstieg gelungen. Sämtliche Werke lassen in der Zusammenschau ganz intuitiv ein Bild des abstrakten Begriffs „Kapitalströmung“ entstehen. Es ist bei Weitem kein positives. Der zerstörerische Strom scheint tollwütig, blind und unaufhaltsam alles niederzureißen. Gibt es denn gar keinen Hoffnungsschimmer? Davon erzählt die Ausstellung nichts. Nur ein winziges, unscheinbares Gemälde von Johanna Kandl zeigt ein Rentnerpaar am Ufer eines kleinen Badesees. In Handschrift steht ein Satz darunter: „And then, silently, capitalism went out of fashion.“