Extended Compositions: Notationen im Dolby Surround-System

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10. Mai 2017
Text: Annette Hoffmann

Extended Compositions.
Kunsthaus PasquArt, Seevorstadt 71, Biel / Bienne.
Mittwoch und Freitag 12.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 12.00 bis 20.00 Uhr, Samstag und Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr.
Bis 11. Juni 2017.
www.pasquart.ch

Man erinnere sich: Expanded Cinema war in den 1960er und 70er Jahren ein Kino, das über sich selbst hinausging. Mit Mehrfachprojektionen und Multimedia versuchten die Künstlerinnen und Künstler des Expanded Cinema die Guckkastensituation hinter sich zu lassen. Daran muss man denken, wenn man sich auf einen Rundgang durch die Ausstellung „Extended Compositions“ im Kunsthaus Pasquart in Biel begibt. Nicht nur wegen der ähnlichen Begriffskonstruktion, sondern weil man sich in der von Ellen Fellmann kuratierten Schau so oft dem bewegten Bild gegenüber sieht. Fellmann lehrt in Bern Musik und Medienkunst und hat die Ausstellung 2015 zuerst für das Künstlerhaus Bethanien und das Radialsystem in Berlin realisiert. Vor allem das Radialsystem ist ein Ort, der prädestiniert ist für solche spartenübergreifenden Projekte. Für das Kunsthaus Pasquart hat Fellmann die Ausstellung nun erweitert.

Wie verlockend das Versprechen von einer Öffnung der Kunst immer schon war, zeigt Hans Richters Experimentalfilm „Rhythmus 21“ aus dem Jahr 1921. Richter komponiert verschieden große Rechtecke von unterschiedlicher Helligkeit zu einer Folge, in der diese geometrischen Formen auf den Betrachter  zuzukommen scheinen. Erinnern die ersten Sequenzen noch an das Schließen einer Klappe und somit an den Start eines Filmes, setzt sich „Rhythmus 21“ dann völlig abstrakt und ohne jegliche Form von Narration fort. Richters Experimentalfilm ist visuell gewordene tonlose Musik. Dass Töne jedoch die Interpretation dessen, was wir sehen, beeinflussen, zeigt Mariateresa Sartoris Video „In Sol maggiore, in Sol minore“. Die Künstlerin unterlegt eine kurze Sequenz aus Edgar Reitz‘ Film „Heimat“, in der ein Mann in Uniform und eine Frau auf einer Balustrade mehrfach wortlose Blicke tauschen, im nächsten Moment sieht man die beiden in einer Halle Walzer tanzen. Je nach Komposition – mal in Dur, mal in moll – will uns die Beziehung der beiden mehr oder weniger glücklich oder gefährdet erscheinen. Dass man sich auf das Gesehene nicht immer verlassen kann, führt auch Bill Viola eindrucksvoll in seinem Video „Chott el-Djerid (A Portrait in Light and Heat)“ von 1979 vor. Es ist in einem Salzsee in der tunesischen Sahara entstanden. Die Luft flimmert, der Wind fegt Sand auf. Die Gestalten, die sich im nächsten Moment als Motorradfahrer erweisen, das Kamel, das Gebäude sind Luftspiegelungen. Oder sollte die eine oder andere Erscheinung doch real sein?

Die Ausstellung „Extended Compositions“ behandelt Ton und Bild gleichwertig. Das hat seine Berechtigung, etwa bei den TV-Filmen, die Samuel Beckett in den 1980er Jahren für den SWR produzierte. Eine wechselnde Anzahl vermummter Gestalten misst mit der immer gleichen Choreografie ein Quadrat am Boden aus. Die sichtbaren, stark ritualisierten Bewegungsabläufe decken sich mit dem schlurfenden Schritt der Darsteller. Der Schnitt ist das formale Element, das Ton und Bild verbindet. Entsprechend viele Found Footage-Arbeiten finden sich in Biel, aber auch solche, für die eigens Bilder produziert wurden. Der in Johannesburg lebende Künstler Joachim Schönfeldt etwa hat in verschiedenen Betrieben gefilmt. Akustisches wird visuell, wenn Gregor Hildebrandt Schallplatten zerschneidet und sie zu einem Bild komponiert, das durch die bunten Labels und die Lichtbrechung zu einer Notation wird. Oder wenn William Engelen eine Partitur zu Faltenwürfen staut und drapiert. Die große Anzahl an Arbeiten kann jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass das Thema nicht eben sehr präzise, aber überraschend unsinnlich angegangen wurde. „Extended Compositions“ weiß nur wenig von der Verführungskraft der Töne oder der menschlichen Stimme. Janet Cardiffs Sound-Installation „The Forty Part Motet (A reworking of ‚Spem in Alium‘, by Thomas Tallis, 1556)“, auf die die Schau wie eine Klimax im Salle Poma hinausläuft, fängt dies auf. Aus 40 kreisförmig angeordneten Lautsprechern ist Tallis‘ Mottete zu hören, jeder Lautsprecher gibt eine Stimme wider, auch die Gespräche und das Stimmen vor der Aufnahme. Das ist so nicht nur betörend schön, sondern hier kann sich die Musik auch wirklich ausbreiten.