Carrie Mae Weems: The Evidence of Things Not Seen.
Württembergischer Kunstverein, Schlossplatz 2, Stuttgart.
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Mittwoch 11.00 bis 20.00 Uhr.
Bis 21. August 2022.
Mary J. Blige sitzt an einem üppig mit Blumen geschmückten Tisch, zu ihren Füßen hockt ein Schwan, Symbol der Reinheit. Zwischen Kristallkarraffe, Früchtestillleben und ein paar afrikanischen Skultpuren steht ein Spiegel, in dem sich die Sängerin betrachtet. Sitzt der Pelzkragen? Passen Diadem und Diamantcollier? Als Carrie Mae Weems (*1953) die „Queen of HipHop Soul“ und neunfache Grammy-Preisträgerin 2019 für das US-amerikanische Magazin „W“ fotografierte, sparte sie nicht mit den Insignien königlicher Macht. Bewusst angelehnt an die barocke Bildsprache der niederländischen Malerei des sogenannten Goldenen Zeitalters, erinnert Weems hier an die Sklaverei, den Kolonialismus und die blutigen Ursprünge des Reichtums, dem sich die europäische Kultur verdankt. Das Porträt von Mary J. Blige hängt derzeit im Württembergischen Kunstverein und erzählt viel über die Verschränkung von Fotografie, Black Popular Culture, Erinnerungskultur und die Aneignung historischer Bilder und Erzählungen, die so typisch ist für Weems Werk.
„The Evidence of Things Not Seen“ ist die erste Werkschau der einflussreichen Afroamerikanerin in Deutschland, die Anfang der 1990er Jahre in Berlin Stipendiatin im Künstlerhaus Bethanien war und auch später immer wieder kam, unter anderem für ihre Video- und Fotoinstallation „Holocaust Memorial“ (2013-2022), in der sie in mehreren mehrstündigen Gedenkritualen den Raum zwischen den Stelen des von Peter Eisenman entworfenen Denkmals für die ermordeten Juden Europas vermaß. In Stuttgart säumt diese Arbeit eine breite Schneise, die auf eine rote Wand aus Acrylglas zuläuft. Weitere wichtige Serien flankieren diese Achse, darunter „Constructing History“ (2008), für die Weems zusammen mit Studierenden Pressefotos von Schlüsselmomenten politischer Gewalt und kollektiver Trauer nachstellte, sowie die großformatigen Schwarzweiß-Fotografien der „Museum Series“ (2006ff.), die die Künstlerin von hinten in langer schwarzer Robe zeigen, vor Repräsentationsarchitekturen berühmter Kunstmuseen wie der Pyramide des Louvre, der schimmernden Außenhaut des Guggenheim Bilbao oder der Prunkfassade des Dresdner Zwingers. Weems versteht diese Rückenporträts als Einladung an uns, die Dinge mit ihren Augen zu sehen und dabei – wie in der zeitgleich in Rom entstandenen Serie „Roaming“ – die Einschluss- und Ausschlussmechanismen der weißen Dominanzgesellschaft in den Blick zu nehmen.
Tatsächlich gehört der Perspektivenwechsel zu den zentralen Strategien, mit denen Weems die Macht der Zuschreibung und die Logik der Identifikation brechen möchte. In den Fotografien der „Kitchen Table Series“, die sie 1990 schlagartig bekannt machten, performte die Künstlerin am Küchentisch gleich ein ganzes Spektrum an Selbstentwürfen einer emanzipierten, selbstbewussten, verletzlichen schwarzen Frau, begleitet von Texten, die sich zu einem vielstimmigen Kommentar über die Notwendigkeit der Überwindung partriarchaler Rollenbilder sortierten. Die Serie „From Here I Saw What Happened and I Cried“ (1995-1996) erzählt in historischen Aufnahmen afrikanischer Menschen, die Weems in wissenschaftlichen Archiven fand, eine Geschichte des rassifizierenden Blicks – und demontiert ihn zugleich, indem sie auf die Individualität der Dargestellten fokussiert und sie so der Gewalt der Objektivierung entzieht. In „Repeating the Obvious“ thematisiert Weems diese Gewalt anhand der Praxis des Racial Profiling, in ihrer Rauminstallation „Land Of Broken Dreams“ in einer ebenso umfangreichen wie pointierten „History of Violence“, deren fiktive Bände „The Prison Industrial Complex“ heißen, „The Corporate State“ oder „The Plague of Corruption“.
Hinter der roten Wand in der Mitte des Saals verbirgt sich übrigens ein kleines Kino, in dem das Video „Lincoln, Lonnie, and Me“ (2012) läuft – ein bitterböser musikalischer Trip durch die US-amerikanische Geschichte, in dem Carrie Mae Weems ganz im Stil alter Revenge-B-Movies den Trickster gibt: „I’m going to break you because I want you to feel the pain I know!“